»Mein Urgroßvater Barnaba Carbonaro, Sohn eines Priesters und einer Wunderheilerin, hat vierundzwanzig Kinder gezeugt, einen Menschen getötet und ein Mandarinenimperium gegründet.« S.9
Inspiriert von der Geschichte seiner eigenen Familie schreibt Giordano ein großartiges Familienepos. Barnaba wird 1880 in Taormina geboren und muss sich schon als Kind, als sogenannter Carusi, auf den Orangenfeldern verdingen. Mit 10 Jahren steht er als Aktmodel vor der Kamera des Barons von Goedel und ab da weiß er, er will reich werden. Lesen und Schreiben wird er nie lernen, aber rechnen kann er wie kein anderer, denn Zahlen sind für ihn wie Magie. Und Mandarinen werden seine Passion. Mit viel Einfallsreichtum und Mut wird er vom Dandy zum geachteten Zitrushändler auf dem Münchner Großmarkt. Doch sein Leben ist wie eine lange Odyssee, nicht immer ist das ersehnte Glück an seiner Seite, mal gewinnt, mal verliert er. 1960 blickt der Patriarch im verschneiten München auf ein abenteuerliches Leben zurück, in dem ihm so mancher Streich gelungen ist, er seine erste große Liebe nie vergessen hat und auf dem Rücksitz seines Mercedes noch immer die Toten sitzen, die ihn nicht loslassen.
Was für eine imposante Geschichte, die doch so viel mehr ist als nur ein Familienepos. Es ist ein Stück sizilianische Geschichte, voller Sinnlichkeit und Temperament, voller süßer und auch trauriger Momente. Doch es wird auch magisch, denn der Aberglaube hat auf Sizilien eine lange Tradition, selbst wenn man weiß, dass die Hausgeister (Padruneddi) nicht wirklich existieren, besser, man arrangiert sich mit ihnen, gibt ihnen, was sie wollen, damit man sie loswird.
Die Zitrusfrüchte sind eine Metapher für das Leben auf Sizilien, so süß und saftig sie auch sind, bevor man sie genießen kann, steht ein hartes Stück Arbeit. Und die wenigen, die das Geld besitzen, die Macht haben – auch mit ihnen muss Barnaba sich arrangieren, wenn er den Göttern das Glück abtrotzen will.
Es ist aber auch eine Geschichte von Armut, Korruption, Hunger und Krieg. Sizilien ist noch wirtschaftlich rückständig, als der Rest Europas schon elektrifiziert ist. Das Patriarchat ist tief verwurzelt, die Bevölkerung hungert, ein täglicher Überlebenskampf, den viele verlieren. Um als Tagelöhner diesen Strukturen zu entkommen, bedarf es einer Menge Mut und Unverdrossenheit. Und das hat Barnaba.
Es wird zu keiner Zeit langweilig, Barnaba durch sein Leben zu begleiten, der unbeirrbar seinem Traum folgt. Obwohl mich natürlich die Kapitel in Sizilien mehr einnehmen konnten, fand ich es auch interessant, was er als Gastarbeiter in Deutschland erlebt hat. Giordano sind hier sehr authentische Charaktere gelungen, die ihrer Rolle gerecht wurden. Sprachlich ist es für mich ein Genuss, jede Zeile ist ein Stück Sizilien, humorvoll, bildgewaltig, voller Lebenslust.
Die Geschichte hat den Geruch von Mandarinenblüten, schmeckt wie ein Cannolo und wärmt die Seele wie die sizilianische Sonne – eine Eruption der Sinne. Ich freue mich jetzt schon auf den Fortgang der Geschichte, den Giordano bereits schreibt.
Am Ende steht die Frage, die sich alle Sizilianer stellen: Wer sind wir? Sind sie mehr als nur die Nachfahren von Zyklopen und griechischen Piraten? Ob Giordano eine Antwort weiß, müsst ihr selbst lesen.
Klappentext
Ende des 19. Jahrhunderts wächst Barnaba Carbonaro in einem archaischen Sizilien auf, den Kopf voller Träume von Reichtum und einer Familiendynastie. Und tatsächlich steigt er mit Gewitztheit und Mut vom bettelarmen Analphabeten zum Dandy auf und schließlich zum geachteten Zitrushändler auf dem Münchner Großmarkt. Ein Leben wie eine Odyssee, voller Triumphe und bodenloser Niederlagen, getrieben von einer unstillbaren Sehnsucht. Barnaba zeugt vierundzwanzig Kinder, verdient ein Vermögen und verliert alles. Am Ende seiner langen Reise blickt der Patriarch auf den hungrigen Jungen zurück, der auszog, den Göttern das große Glück abzutrotzen. Und er versteht, dass ihm zwischen Abschieden und Neuanfängen, zwischen süßen Mandarinen und bayerischem Schnee etwas viel Größeres gelungen ist.
Ein großes deutsch-italienisches Familienepos: sinnlich, farbenfroh, imposant.
Bibliografische Angaben
ISBN: 978-3-442-31560-4
Verlag: Goldmann Verlag
Erscheinungsjahr: 14. März 2022
Seiten: 544, Hardcover
Über den Autor
Mario Giordano, geboren 1963 in München, ist Schriftsteller und Drehbuchautor. Seine Romane sind in über 15 Sprachen übersetzt worden, mit seinen »Tante Poldi«-Krimis stand er in Deutschland und den USA regelmäßig auf den Bestsellerlisten. Zudem verfasste er u.a. die Romanvorlage und das Drehbuch zu »Das Experiment« sowie Bilder- und Jugendbücher und schreibt für verschiedene »Tatorte«. »Terra di Sicilia« basiert auf der Geschichte seiner Familie. Mario Giordano lebt in Berlin.
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