Ein heißes Jahr von Philippe Djian

Werbung. Herzlichen Dank an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

»Bebend vor Wut, durchquerte er die Empfangshalle, für den Pförtner mit dem zu seinen Füßen dösenden Wolfshund hatte er nur ein kurzes Nicken übrig.«

Ein heißes Jahr, Seite 1

Dieses Zitat aus dem ersten Absatz des Romans weist die Richtung, Wut ist ein beherrschendes Gefühl. Wut, auch unterdrückte, in Beziehungen und Wut, auch ausgelebte, gegen die Ursachen des Klimawandels und auf andere gesellschaftliche Probleme.

Ohne jegliches Pathos zeichnet Djian die Welt im Jahr 2030 (was auch der französische Originaltitel ist). Beklemmend, furchteinflößend und doch so vertraut. Monatelange Sommer mit unbekannter Hitze und keinem Niederschlag, und ein schnell hereinbrechender Winter mit sintflutartigen Regenfällen. Zumindest der Sommer erinnert mich fatal an den Diesjährigen, nur das Djian diesen Roman bereits 2020 geschrieben hat.
Inmitten dieser dystopischen Welt geht es – darin ist Djian seinem Lebenswerk treu geblieben – um Beziehungen. Freundschaft und Liebe, Treue und Verrat und um die Unfähigkeit die Verhältnisse zu ändern, sei es auf gesellschaftlicher Ebene oder auf zwischenmenschlicher Ebene. Wie so oft sind die Protagonisten wieder auf Sinnsuche des menschlichen Daseins, daneben versuchen Sie ganz unterschiedlich mit Ihrer Wut umzugehen.

»Zur Beruhigung, und um seine Wut abzuschütteln, rauchte er einen Joint bei voll aufgedrehter Klimaanlage.«

Ein heißes Jahr, Seite 8

Die einen wollen vergessen, die anderen schert es nicht und wieder andere stürzen sich in Aktionismus.

Diesmal hat Djian seinem Protagonisten Greg scheinbar ein besonders hartes Schicksal aufgebürdet. Einige Jahre vor der Handlung des Romans verlor er bei einem tragischen Unfall seine Frau und einen Sohn. Ein literarischer Held, mit dem man gut mitfühlen kann. Und doch er hat auch seine dunklen Seiten, er trägt die Verantwortung dafür, dass das Schädlingsmittel Montrazol, hochtoxisch und für Menschen lebensgefährlich, noch immer auf dem Markt ist. Auf einer Lesung, zu der er nur seiner Nichte zuliebe ging, sieht er jene junge Autorin mit den langen offenen Haaren, die vor Jahren mal das Mädchen mit den Zöpfen war, das Freitags protestierte, anstatt zur Schule zu gehen. Und dann verliebt er sich in deren Verlegerin, die eine engagierte Umweltaktivistin ist. Tatsächlich ist die Anziehung gegenseitig, doch die Vergangenheiten der beiden sind noch sehr präsent und so finden sie nicht leicht zusammen. Daneben gibt es natürlich noch eine ganze Reihe von Figuren, die im Leben der beiden mitwirken. Gregs Nichte Lucie, die Umweltaktivistin, deren Schwester Aude, die ebenfalls ein hartes Schicksal zu tragen hat. Gregs Schwester Sylvia und deren Mann Anton, Stiefvater der beiden Schwestern und Gregs bester Freund. Wie so oft bei Djian, geht es um menschliche Beziehungen, die er bis ins Detail seziert. Oberflächlich gelesen mag man denken, es geht in diesem Buch vorwiegend um die Beziehung zwischen Greg und Vera.
Auf den ersten Blick also ein Roman wie man ihn von Djian erwartet, doch die Story mutet, durch das beeindruckende Setting – einer vom Klimawandel geprägten We – – politischer an, als man es von Djian erwartet. Trotz der tiefgehenden Beziehungsanalyse bekam ich den Eindruck, Greg und Veras Geschichte ist hier nur ein Sinnbild für die Zerstörung der Welt.

Während andere Autoren, wenn sie in die Jahre kommen (Djian ist, als er den Roman geschrieben hat, 71 Jahre alt) immer dickere Bücher schreiben und/oder sich in endlosen Sexszenen ergehen, bleibt Djian knackig. Ja, ich habe sogar das Gefühl, er braucht von Roman zu Roman weniger Worte um mehr zu sagen. Und was das Thema Sex angeht, seine Protagonisten sind beileibe keine sexlosen Wesen, doch er reduziert diesen Teil zwischenmenschlicher Interaktion gekonnt auf einzelne Sätze.

Es ist ein wirklich imposanter Roman, einer der mitreißt, den man nicht aus der Hand legen kann und der ein völlig unerwartetes Ende präsentiert, das wahrlich tief unter die Haut geht.
Wichtig ist noch zu erwähnen, da nicht jede*r damit klarkommt, Djian kennzeichnet seine Dialoge nicht, weder durch Kursivschrift, noch durch Anführungszeichen, ebenso wenig ist das Buch in Kapitel unterteilt. Das ist auch gar nicht nötig. Schnell werden die Figuren lebendig und mir war zu jeder Zeit klar, wer gerade spricht. Die lebendigen Dialoge wirken bestechend real.

Fazit:

Philippe Djian hat mit »Ein heißes Jahr« ein Werk geschaffen, das wirklich großes Kino ist. Kein Buch hat mich dieses Jahr so tief erreicht. Auf nur 228 Seiten toben sich alle menschlichen Gefühle in einer Intensität aus, wie andere sie nicht auf 600 Seiten rüberbringen können. Mir fallen auch keine anderen Autorìnnen ein, die mit so wenigen Worten so viel sagen können.

War da noch was? Ach so, ja klar, ob ich eine Leseempfehlung abgebe? Muss die Frage wirklich sein, ergibt sich das nicht von selbst?

Klappentext:

Eines Morgens stößt Greg auf eine Reportage über das ›Mädchen mit den Zöpfen‹, das 2018 mit ihrem Klimastreik eine globale Bewegung ausgelöst hatte. Über zehn Jahre sind seitdem vergangen, und wenig hat sich getan. Gerade noch hat Greg gegen sein Gewissen Forschungsergebnisse über die Schädlichkeit eines Pestizids gefälscht. Gleichzeitig unterstützt er seine Nichte Lucie und ihr Engagement für das Klima. Als er dabei die Umweltaktivistin Véra kennenlernt, wird Gregs Weltbild auf den Kopf gestellt.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-257-07249-5
Verlag: Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum: 22.11.2023
Seiten: 228, Hardcover

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"Es gibt nur einen Weg, um Kritik zu vermeiden: Nichts tun, nichts sagen, nichts sein" Aristoteles

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