MOOSFLÜSTERN – Joachim B. Schmidt

Werbung, danke an Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

In der Familie Lieber verdrängt man gern unangenehme Themen, vor allem solche aus der Vergangenheit. Und so ist es kein Wunder, dass Heinrich erst mit 40 erfährt, dass seine leibliche Mutter kürzlich verstorben ist, und zwar in Island. Scheinbar gelassen nimmt Heinrich zunächst die Neuigkeiten auf, auch dass er noch eine Tante in Paris hat, hieß es doch immer, seine Familie sei verstorben. Doch das beschauliche, biedere Leben des korrekten Bauingenieurs aus Graubünden wird in den nächsten Wochen gehörig auf den Kopf gestellt. Nicht nur seine Karriere erleidet Schaden durch einen folgenschweren Fehler seinerseits. Und so nutzt Heinrich die Gunst der Stunde und reist nach Paris zu seiner Tante, um mehr über seine Mutter zu erfahren. Anschließend fliegt er nach Island, um ihr Grab zu besuchen, nichtsahnend, dass diese Reise zu einem Abenteuer werden wird.

20 Jahre nachdem Schmidt mit dem Schreiben begonnen hatte, erschien nun Moosflüstern im Diogenes Verlag. (2017 erstmals im Landverlag.) Die Geschichte hat einen wahren historischen Hintergrund und geht zurück zur Nachkriegszeit, als es in Island an Frauen mangelte und dringend Arbeitskräfte gebraucht wurden. 1949 wurden vom isländischen Bauernverband per Anzeige in Deutschland »Dienstmädchen für Landhaushalte« gesucht. »Bauer sucht Frau« in einer frühen Ausgabe sozusagen. Rund 200 Frauen kamen damals mit der MS »Esja« in Island an.
Im Roman ist auch Anna, Heinrichs Mutter, auf dem Schiff, die von ihrem entbehrungsreichen, anstrengenden Leben in der neuen Heimat, der harten, nicht enden wollenden Arbeit auf dem Hof berichtet und dem wahren Grund, warum sie ihre Familie damals verlassen hat. Vorbild für Anna war Ursula von Balszun, deren Geschichte in einem kurzen Nachwort erzählt wird.
Hauptsächlich folgen wir aber Heinrich auf seinem Roadtrip, der ihn ordentlich verändern soll.

Ich muss zugeben, ich hatte so meine Schwierigkeiten mit dem biederen, überkorrekten Spießer Heinrich mit seiner Modelleisenbahn im Keller. Auch seine Entwicklung, die er im Laufe seiner Reise durchmacht, erschien mir nicht immer glaubwürdig, eher etwas drüber. Um so mehr gefielen mir die Passagen, in denen seine Mutter zu Wort kommt. Davon hätte ich mir inhaltlich mehr gewünscht. Dass Schmidt erzählen kann, wissen wir spätestens seit Kalmann. Auch hier blitzt gelegentlich sein unverkennbarer Humor durch, den ich in seinen späteren Büchern so mochte. Unverkennbar auch sein Talent, uns als Leser*innen die raue, gewaltige Landschaft Island zu zeigen, der hier im Buch am Ende eine besondere Rolle zukommt. Ob man allerdings das Ende mag, ist wohl Geschmacksache.
Ich kann sehr gut verstehen, dass Schmidt neugierig war, als er zum ersten Mal von den »Esja-Frauen« erfahren hat. Die teils dramatischen Schicksale, die diese Frauen damals veranlasste, ihre Heimat zu verlassen, hat Schmidt erzählerisch gut und eindrücklich verpackt.

Klappentext

Im Juni 1949 brachte der Dampfer »Esja« rund 200 Frauen aus Deutschland nach Island, wo sie sich als Dienstmädchen auf Bauernhöfen verdingten. Darunter auch Heinrich Liebers Mutter, von der er immer geglaubt hatte, sie sei nach seiner Geburt gestorben. 40 Jahre später ist Heinrich Bauingenieur, verheiratet, doch sein Leben gerät auf einmal ins Wanken. Der sonst so korrekte Mann fasst einen überstürzten Entschluss und reist nach Island, wo er sich auf die Suche nach seiner Herkunft macht.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-257-61348-3
Verlag: Diogenes Verlag
Erscheinungsjahr: 21. August 2024
Seiten: 288, Taschenbuch

Über den Autor

Joachim B. Schmidt, geboren 1981, aufgewachsen im Schweizer Kanton Graubünden, ist 2007 nach Island ausgewandert. Seine Romane sind Bestseller und wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Crime Cologne Award und zuletzt mit dem Glauser-Preis. Der Doppelbürger lebt mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Kindern in Reykjavík.

Avatar-Foto
Über ein.lesewesen 309 Artikel
Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*