Werbung, ich bedanke mich beim Arche Verlag für das Rezensionsexemplar.
»Meine Großmutter war der Überzeugung, dass der Allmächtige einem Menschen kaum eine schwerere Prüfung auferlegen könne, als ein Mädchen in Afghanistan zu sein. Als Kind wollte ich kein Mädchen sein. Ich wollte nicht einmal, dass meine Puppen weiblich waren.« S.11
Das, was wir hier lesen, ist kein Roman! Ist ist die traurige, erschütternde aber auch hoffnungsvolle Lebensgeschichte einer afghanischen Frau und Mutter, die ergreifend und mutig schildert, was für uns Frauen hier in Deutschland unvorstellbar ist. Eine Geschichte, die unter die Haut geht. Unterbrochen werden die Kapitel von Briefen an ihren Sohn Siawash, der ihr mit nur 19 Monaten weggenommen wurde. Ihm versucht sie ihr Leben zu erzählen, damit er versteht, wie tief ihre Liebe zu ihm ist, und um Tausenden hilflosen afghanischen Frauen Mut zu machen.
Qaderi wächst in Herat, einer Großstadt im Westen Afghanistans auf. Schon früh wird für Qaderi deutlich, dass man ihrem Bruder andere Geschichten erzählt, Geschichten von Dschinns, von Wünschen, die in seinem Leben wahr werden können. Ihr machte vor allem ihre Großmutter, Nanah-jan, immer wieder deutlich, wo ihr Platz ist und was man von ihr erwartet.
»Meine Nanah-jan sagte immer: »In den Augen eines Mädchens sollte man Angst erkennen.«« S. 14
Unter der Herrschaft der Taliban wächst sie zur Frau heran und muss miterleben, wie den Frauen alle Rechte aberkannt werden. Sie dürfen nicht ohne männliche Begleitung auf die Straße gehen, sie dürfen nicht mehr lernen, keinen Beruf ausüben. Verstöße werden mit Auspeitschungen bestraft, schlimmstenfalls droht ihnen die Enthauptung. Doch Qaderi ist willensstark, mutig und rebellisch, findet immer wieder Wege, sich zu widersetzen und anderen Mädchen in ihrem Ort Mut zu machen.
Mit der Unterstützung ihrer Eltern gründet sie mit 13 Jahren eine Mädchenschule, offiziell, um den Koran zu studieren– das einzige Buch, das überhaupt noch gelesen werden darf. Doch in dem Zelt bringt sie den Kindern Lesen und Schreiben bei, begleitet von der ständigen Angst, erwischt zu werden, denn es könnte für sie die Todesstrafe bedeuten.
Doch in ihrem Leben wartet noch eine viel mutigere Entscheidung auf sie. Nach ein paar freien Jahren im Iran, wo Qaderi als Lehrerin arbeitet und ihre ersten Bücher veröffentlichen kann, will ihr Mann nach Afghanistan zurückkehren, um in der Politik Karriere zu machen. Für Qaderi bedeutet das, entweder zurück in die Bedeutungslosigkeit, keinen Namen, keine Stimme, keine Rechte mehr zu haben und bei ihrem Sohn bleiben. Oder sie setzt ihren Kampf fort, mit Konsequenzen, die wohl für jede Mutter unerträglich wären.
Dieses Buch hat mich immer wieder zu Tränen gerührt, manchmal war ich sprachlos, manchmal musste ich es zur Seite legen, weil es schier nicht zu verkraften war. Von Beginn an hat Qaderi mich mit ihren starken, poetischen und berührenden Worten gefesselt. Schon als Kind hat sie nicht eingesehen, weshalb sie sich anders verhalten soll als ihre Brüder, ist auf Bäume geklettert und hat Bücher gelesen, hat die Ungerechtigkeiten gegenüber Mädchen nicht hingenommen. Wie viel Mut es braucht, sich den Regeln und Gesetzen einer zutiefst konservativen patriarchischen Gesellschaft zu widersetzen, wenn klar ist, welche Konsequenzen zu befürchten sind. Ob russische Intervention, Bürgerkrieg oder Talibanherrschaft, das Land kennt keinen Frieden und keine Freiheit. Frauen werden zu Objekten degradiert, sind Vergewaltigungen, Zwangsheiraten und Polygamie ausgeliefert. Wie kostbar dagegen die kleinen Siege sind, die immer wieder errungen hat.
Es braucht diese Menschen, diese starken Frauen, die dem Kampf gegen die Unterdrückung, gegen das unmenschliche Patriarchat eine Stimme geben. Und wir sind es, die ihre Geschichten lesen müssen.
In einem sehr bewegenden Nachwort schreibt sie:
»Ich konnte es nicht fassen, dass ich eines Tages wieder gezwungen sein sollte, gegen die Taliban zu kämpfen. Aber die Wirklichkeit wurde zur Fratze, und die Weltgemeinschaft zeigte ihr wahres Gesicht, indem sie uns im Stich ließ.« S.233
Vielleicht erinnert ihr euch an die Bilder, als 2021 deutsche und US-amerikanische Truppen das Land verlassen, an die Menschen, die mit ihrer Verzweiflung und den neuen alten Talibanherrschern zurückgelassen wurden.
Bitte lest dieses Buch und vergesst nicht die Frauen in Afghanistan und all den anderen Ländern, die die Menschenrechte mit Füßen treten. Dieses Buch wird immer einen Platz in meinem Herzen haben.
Klappentext
Wie weit gehst du, um dir treu zu bleiben? – Die wahre Geschichte einer afghanischen Mutter in ihrem Kampf für Gleichberechtigung.
Homeira ist kein gewöhnliches afghanisches Mädchen. Mit dreizehn riskiert sie ihr Leben, um andere Mädchen heimlich zu unterrichten. Sie liest jedes Buch, das sie finden kann, am liebsten die russischen Klassiker ihres Vaters, die er zum Schutz vor den Taliban unter einem Maulbeerbaum vergräbt. Als eine ihrer Kurzgeschichten in der Zeitung veröffentlicht wird, glaubt Homeira, als Frau in Afghanistan glücklich werden zu können. Doch als sich Jahre später ihr Mann nach der Geburt ihres Sohnes eine Zweitfrau nehmen will, weiß sie, dass das niemals gelingen kann. Homeira steht vor einer unmöglichen Entscheidung: Revoltiert sie und verliert ihren Sohn, oder lässt sie es geschehen und verliert sich selbst? In ihrem Buch verwebt sie Erinnerungen mit bewegenden Briefen an ihren Sohn, den sie zunächst zurücklassen musste. Homeiras Geschichte ist die einer bemerkenswerten afghanischen Frau – und die einer Mutter zwischen Liebe und dem Wunsch nach Freiheit.
Bibliografische Angaben
ISBN: 978-3-7160-0006-9
Verlag: Arche Verlag
Erscheinungsjahr: 14. September 2023
Übersetzung: Eva Kemper
Seiten: 240, Hardcover
Über die Autorin
Homeira Qaderi wurde 1980 in Kabul geboren. Im Iran studierte sie Persisch und promovierte in persischer Literatur. Nach ihrer Rückkehr nach Afghanistan wurde sie Professorin an der Universität Kabul. Als Frauenrechtlerin und Beraterin des afghanischen Ministeriums für Arbeit und Soziales sprach sie immer wieder über die Situation der Frauen in ihrer Heimat. Während des Falls von Kabul im August 2021 gehörten sie und ihr Sohn zu den Letzten, die an Bord eines amerikanischen Flugzeugs das Land verlassen konnten. Heute lebt und arbeitet Qaderi als Aktivistin, Autorin und Professorin in den USA. Sie veröffentlichte sechs Bücher – „Dich zu verlieren oder mich“ ist das erste in deutscher Übersetzung.
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