WUT von Raphael Thelen

Werbung. Herzlichen Dank an den Arche Literaturverlag für das Rezensionsexemplar.

Bevor ich jetzt das Buch vorstelle, an dieser Stelle eine Warnung: Ich spoilere, nicht mehr als es andere schon getan haben und als so manches Interview mit dem Autor schon an den Tag gebracht hat, aber ich rede auch über das Ende des Buches, das muss sein, weil darin im Wesentlichen meine Kritik begründet ist. Ich versuche allerdings dabei so vage wie möglich zu bleiben.

»What do we want? – Climate Justice! – When do we want it? – Now!« Mit diesen Worten, die Vielen bekannt sein dürften, zieht der Demonstrationszug weitgehend unbeachtet durch Berlins Straßen. Auf der vorgegebenen Route, in enger Kooperation mit der Polizei, die mit einem Mindestaufgebot vor Ort ist, um den Verkehr zu regeln.
Die Unzufriedenheit der Teilnehmerinnen ist groß, längst haben die Demos keine Wirkung mehr. Da kommt es zu einer spontanen Aktion, das Verwaltungsgebäude der DE (Deutsche Energie) wird von einem Teil der Demonstrantinnen gestürmt.
Ist das aus Wut geschehen? Wut die Angst bezwingt, verdrängt und handlungsfähig macht? Rückblickend, aus eigener Perspektive würde ich das verneinen. Es ist eher Hoffnungslosigkeit, weil alles Rumgelatsche auf den Demos sowieso nichts bringt. Eine Übersprunghandlung geboren aus Verzweiflung, angetrieben durch den Adrenalinschub, den Angst auslöst. Völlig undurchdacht, nichtmal in Ansätzen strategisch, sondern eine Verzweiflungstat.

Für seine Protagonistinnen hat Thelen interessante Figuren erschaffen. Da ist Vallie, die nonbinäre Perspektivfigur, die aus behütetem und privilegiertem Elternhaus stammt. Sara aus Südamerika, deren Familie unter dem Lithiumabbau in der Heimat leidet, der kolonialistische Züge hat. Und Wasim, dessen arabische Wurzeln in immer wieder Rassismus spüren lassen. So schafft Thelen es, mit nur drei Figuren die inhomogene Gruppe der Klimaaktivisten lebendig werden zu lassen. Und was noch viel wichtiger ist, so deutet er den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Problemen unserer Gesellschaft an. Für sich genommen lässt sich wohl keines lösen, es muss sich strukturell etwas ändern. Ein Gedankengang, der auch im Buch gegangen wird, wenn zunächst auch nur zaghaft. Wird auf der Demo noch »Climate Justice« gefordert, so ist es später »System Change«. Doch die Wut der Klimaaktivisten scheint noch nicht gewachsen zu sein, denn ausgerechnet die Chefin der DE, Müller, wirft dieses Vallie als Provokation entgegen. Dass der Spruch aus Müllers Mund kam, zeigt die Zaghaftigkeit, die absolute Abwesenheit von Wut. Nicht mal zu einer Zustimmung konnte sich Vallie durchringen. Dabei ist ein »System Change« keine neue (aber durchaus berechtigte) These um die entscheidenden Veränderungen überhaupt in die Wege leiten zu können. Ein nicht unerheblicher Teil des Romans spielt während der Demo, unterbrochen von sehr geschickt eingefädelten Rückblenden, die den Charakteren Tiefe geben. Und alles ist wunderbar nachvollziehbar. Ich glaube, dass viele Leserinnen nach dem Lesen des Buchs nachvollziehen (wenn vielleicht auch nicht verstehen) können, wie und warum eine Demo eskalieren kann. Für mich waren das absolut treffende Beschreibungen, habe ich das alles selbst nicht nur einmal erlebt, und konnte alles nachvollziehen, ja sogar fühlen.

Nicht nachvollziehbar für mich war eine Figur namens Robert, der eine Entwicklung nahm, die ich persönlich aufgrund eigener Erfahrungen sehr gut nachvollziehen kann. Doch leider wird im Buch die Entwicklung von Robert nicht gezeigt, sondern der steht plötzlich – in voller Blüte seiner Wut da und übertreibt es. Wer nicht selbst in der Vergangenheit eine Radikalisierung durchlaufen hat, kann das nicht nachvollziehen, so glaube ich – auch aus Gesprächen mit anderen Leser*innen. Ich befürchte, das kann völlig falsch rüberkommen.

Bei all der Realitätsnähe des Romans bereitete mir dann das (ich kann es nicht anders bezeichnen) naive Ende des Romans Unbehagen. Ich musste mir aber vor Augen halten, dass ich selbst lange an die geschilderte Utopie glaubte, auf sie hoffte und glaubte, wenn nur die Rahmenbedingungen stimmten, dann würden auch alle bei so etwas mitmachen. Ich gehe nicht weiter auf die Details ein, den interessierten Leser*innen rufe ich das Stichwort »Jean Jacques Rousseau – Der Gesellschaftsvertrag« zu, und zwar nicht in moderner Interpretation, sondern in wörtlicher Bedeutung. Das Leben hat mich gelehrt, dass derartige Utopien nicht funktionieren, sie scheitern am Menschen. Die meisten Menschen wollen ein größeres Auto als der Nachbar, ein angesagteres Handy als der Kumpel und weniger dafür tun als der Kollege.
Doch der Roman ist ein fiktionales Werk, und so können natürlich auch »Friede- Freude-Eierkuchen-Utopien« funktional sein. Das Romanende ist eines von mehreren möglichen Szenarien. Das vom Autor gewählte war für mich unglaubwürdig, wenn ich auch verstehe, dass er damit Hoffnung machen will und er offensichtlich ein sehr gutes Menschenbild (wie Rousseau und ich lange Jahre auch) hat. Offensichtlich wurde er noch nicht oft genug enttäuscht, um es zu verlieren, was toll ist, die Welt braucht Idealisten.

Damit, nach so viel Kritik an der Umsetzung der Figur des Robert und am Ende des Buches, kein falscher Eindruck entsteht, möchte ich noch etwas klarstellen. Die Kritik ist ausschließlich aus meinen persönlichen Erfahrungen geboren. Andere, vielleicht weniger in politischen Protesten bewanderte Leser*innen können das ganz anders empfinden. Insgesamt halte ich »Wut« von Raphael Thelen für ein wichtiges Buch, da es zumindest in manchen Punkten Verständnis schaffen kann, da es aufrüttelt und vor allem, da es viel Stoff für Diskussionen bietet.

Ich habe das Buch paralell mit ein.lesewesen gelesen und seit zwei Wochen diskutieren wir ständig darüber. Werft gern einen Blick auf ihren Text zu „Wut“.

Klappentext

Ein Roman aus dem Herzen der Generation Klima

Raphael Thelen zeigt in seinem fesselnden Debütroman, wie die vermutlich größte Katastrophe in der Geschichte der Menschheit nicht nur unsere Ökosysteme, sondern auch unser Inneres verheert. Und er erkundet, wie weit ziviler Ungehorsam heute gehen darf – oder sogar muss?

Berlin, Hochsommer. Vallie, Sara und Wassim demonstrieren in den glühenden Straßen für mehr Klimaschutz. Scheinbar haben sie schon viel erreicht, sind mit Größen aus der Politik per du, gewinnen Prozesse gegen mächtige Konzerne. Und trotzdem ändert sich nichts, trotzdem rast der Planet beinahe ungebremst auf die Apokalypse zu. Sara und Vallie, die sich eigentlich lieben, sind längst ausgebrannt und finden kaum mehr zueinander. Hat das alles noch einen Sinn? Das fragen die drei sich mittlerweile ständig. Doch heute ist etwas anders. Sara und Wassim reißen aus dem geordneten Demonstrationszug aus und Vallie mit sich. Was haben sie vor? Und wie wird die Gegenseite reagieren? Ein bis ins Mark spannendes Katz-und-Maus-Spiel entspinnt sich, bei dem die drei über sich hinauswachsen müssen – oder alles verlieren.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3716000052
Verlag: Arche Literatur Verlag
Erscheinungsjahr: 17. August 2023
Seiten: 176, Hardcover

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"Es gibt nur einen Weg, um Kritik zu vermeiden: Nichts tun, nichts sagen, nichts sein" Aristoteles

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