DREI SCHALEN – Michela Murgia

Werbung, danke an Wagenbach Verlag für das Rezensionsexemplar.

Die 12 Kurzgeschichten auf gerade mal 155 Seiten haben es in sich. Es ist ein unbequemes Buch. Beim Lesen beschlich mich immer mehr das Gefühl, dass Murgia unverblümt von Situationen erzählt, über die man nicht gern spricht, die man nicht gern hört. Und tatsächlich machte ich nach jeder Geschichte eine Pause und habe lange darüber nachgedacht.
Murgia schreibt über Krisenzeiten, Trauer, Verlust, Krankheit und Tod – Zeiten, in denen Menschen nach Verbündeten suchen, nach Lösungen. Das Verbindende sind die durchweg namenlosen Figuren, die sich wie ein unsichtbarer, loser, roter Faden durch die Geschichten ziehen, was sie zu etwas Universellen macht. Ganz im Gegensatz zu den Lösungen, die individueller nicht sein könnten. Und das macht das Buch so nachdenklich.
Da ist die Frau, die erfährt, dass sie Krebs hat und ihrem Tumor einen Namen geben will – Murgias biografischste Geschichte. Oder ein Arzt, der mit ansehen muss, dass trotz akribischer Vorsichtsmaßnahmen sein Sohn mit Covid angesteckt wird. Die lesbische Frau, die Kinder hasst, sich aber als Leihmutter für ihren besten Freund zur Verfügung stellt. (Und das in einem Land, wo das Adoptionsrecht von Regenbogenfamilien beschnitten wird.)
Der Mann, der nach einer Trennung alle Orte meidet, an denen er mit seiner Freundin je gewesen ist. Die Exfreundin, die seitdem mit Übelkeit kämpft.
Eins haben sie alle gemeinsam – ihr Leben wurde durch ein Ereignis mehr oder weniger aus der Bahn geworfen. Murgia zeigt, dass es normal ist, auch unkonventionelle Lösungen zu finden. Gerade in der Pandemie hat sich immer wieder gezeigt, dass es manchmal etwas Kreativität braucht, um sich mit dem Unfassbaren, Unsichtbaren zu arrangieren, sei es auch nur, um nicht verrückt zu werden.

Nach allen Geschichten drängte sich die Frage auf, ob es wirklich ein Richtig oder Falsch gibt oder einfach nur die eigene Entscheidung, die uns hilft weiterzuleben, Akzeptanz zu finden, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Was für den einen bizarr und absurd erscheint, ist für andere vielleicht die einzige Art, einen Verlust zu kompensieren oder mittels eines Rituals eine Krise zu bestehen.
Somit wird Murgias Buch auch zu einem Appell an die Toleranz, denn so vielfältig die Menschen sind, so zahlreich sind auch ihre Entscheidungen. Damit richtet Murgia den Blick vom Individuum auf das Wir, mit ihrem direkten, ironischen Ton, den man von ihr kennt. Es ist nie zu spät, sich von alten Denkmustern zu lösen und neue Erfahrungen zu sammeln. Vielleicht war das Murgias Vermächtnis, ich weiß es nicht, aber wenn, dann würde es mir gefallen.

Dem Rezensionsexemplar lag ein kurzes Interview mit Murgia bei, von dem ich mir gewünscht hätte, der Verlag hätte es ins Buch aufgenommen. Denn es hilft, die Geschichten, eigentlich ihr gesamtes Werk, mit dem Leben und den Ansichten der Autorin besser zu verknüpfen. Anders als in Deutschland war Murgia in Italien eine der bekanntesten Stimmen, die sich zeit ihres Lebens gegen Misogynie, Homophobie und den Rechtsruck in ihrem Land einsetzte. Sie war vieles, Feministin, Aktivistin, Kommunistin und nicht zuletzt die Stimme Sardiniens. Ihr Schreiben war immer politisch, genau wie ihr Leben. Kurz vor ihrem Tod kaufte sie noch ein Haus für ihre zehnköpfige queere Familie und heiratet einen Mann, »aber es hätte genauso gut eine Frau sein können«, wie sie sagt, denn das Geschlecht spielte für sie keine Rolle.

»Ich bin fünfzig Jahre alt, aber ich habe zehn Leben gelebt. Ich habe Dinge getan, die die allermeisten Menschen in einem ganzen Leben nicht tun. Dinge, von denen ich nicht einmal wusste, dass ich sie mir gewünscht habe. Ich habe wundervolle Erinnerungen.«*

In dem *Interview mit »Corriere della Sera«, bei dem sie ihre unheilbare Krebserkrankung öffentlich machte, sagte sie, wie wolle nicht unter der Regierung Melonis sterben. Dieser Wunsch hat sich nicht erfüllt, sie starb am 10. August in Rom.
Ich lege allen dieses Buch ans Herz, die eine innere Auseinandersetzung mit den o.g. Themen nicht scheuen und bereit sind, bei der Sicht auf die Dinge der Welt eine anderen Perspektive einzunehmen.

Klappentext

Wie gehen Menschen mit einer grundstürzenden existentiellen Veränderung um? Das neue, letzte Buch der großen italienischen Schriftstellerin Michela Murgia erzählt davon: unverblümt und trostreich, kompromisslos und voll ermutigender Lebensklugheit.

Eine Frau sucht einen Namen für ihren Tumor. Eine andere holt sich die Pappfigur eines Popsängers ins Haus, als der geliebte Sohn auszieht. Eine Kinderhasserin bietet sich ihren Freunden als Leihmutter an. Aus Angst, seiner Exfreundin zu begegnen, traut sich ein Mann kaum noch vor die Tür, und eine Verlassene kann die Trennung buchstäblich nicht verdauen.

Die Protagonisten von Michela Murgias Geschichten erleben alle auf ihre Weise einen radikalen Umbruch: Sie verlieren sämtliche Gewissheiten – und finden die unterschiedlichsten Antworten auf das, was ihnen geschieht. Sie treffen ungewöhnliche Entscheidungen, kämpfen ums Überleben, erfinden sich neue Rituale oder wählen die kontrollierbare Katastrophe, um der unkontrollierbaren zu entgehen.

Ausgehend von ihrer eigenen Erfahrung erzählt Michela Murgia in zwölf miteinander verflochtenen Geschichten von Krankheit und Tod, von Trauer und neuer Liebe, von der Kunst des Abschiednehmens und der des Weiterlebens. Ein Mut machendes Buch über Krisen und Neuanfänge, wahrhaftig und hell.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-8031-3363-2
Verlag: Wagenbach Verlag
Erscheinungsjahr: 1. Februar 2024
Übersetzung: Esther Hansen
Seiten: 155, Hardcover

Über die Autorin

Michela Murgia wurde 1972 in Cabras (Sardinien) geboren. Sie selbst konnte nicht über ihr erstes Buch lachen, obwohl es durchaus amüsant war. In »Il mondo deve sapere« (auf Deutsch: »Camilla im Callcenterland«) erzählte Michela Murgia von den prekären Arbeitsverhältnissen eines Callcenters. Es sei, schrieb sie im Nachwort, ein Zeugnis ihrer Wut. Ein Exorzismus. Mit dieser Wut arbeitete sie weiter – als kritische linke Stimme in der italienischen Gesellschaftspolitik und als Autorin. Für ihren Roman »Accabadora« (2009), in dem sie ein archaisches und ein modernes Italien verknüpfte, erhielt sie den Premio Campiello, einen der renommiertesten italienischen Literaturpreise. Das Buch wurde in 25 Sprachen übersetzt, auch in Deutschland fand es viele Zehntausend Leserinnen und Leser. Mit Interventionen und Essays wie »Faschist werden. Eine Anleitung« (2018) wandte sie sich gegen den Rechtsdrift in der italienischen Gesellschaft. Sie schrieb gegen Misogynie, Homophobie und konservative Familienpolitik. Zuletzt hatte sich die linke Aktivistin in Italien für die Rechte queerer Menschen engagiert. Mit ihrer Nierenkrebserkrankung ging Murgia offen um: Sie thematisierte den nahenden Abschied von ihrer Familie in ihrem Erzählband »Tre ciotole« (»Drei Schalen«). Michela Murgia starb am 10. August in Rom.

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Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger

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