DER GESANG DER FLUSSKREBSE – Delia Owens

Kurz vor Kinostart habe ich es endlich geschafft, den oft gehypten Roman zu lesen. Ob ich auf den Hype aufspringen konnte, und warum ich nicht ins Kino gehen werde, erfahrt ihr später.

In knapp 500 Seiten hat die Autorin alle reingepackt, was nur geht. Eine Coming-of-age-Story, ein bisschen Krimi, ein Schuss Gerichtsstory alla Grisham und natürlich reichlich Liebe. Von vornherein angelegt als große Hollywoodstory.
Kya Clark lebt in der Marsch von Nord Carolina, das allein genügte in den 60er Jahren, in dem der Roman spielt, um von den Stadtbewohnern verachtet und als Sumpfpack beschimpft zu werden. Zu Zeiten der Rassentrennung in den USA gehörte sie somit zum Rand der Gesellschaft. Wie niederträchtig und vorurteilsbehaftet die Menschen warne, zeigt sich besonders deutlich daran, dass sie ohne Beweise wegen Mordes an ihrem damaligen Freund Chase angeklagt wurde.
Mit sieben Jahren von ihrer Familie verlassen, muss sie sich allein im Sumpf durchschlagen. In Zeiten der Not wird Jumpin, ein Farbiger, ihre einzige Rettung, zu dem sie eine lebenslange Freundschaft hat. Tate, ein Junge mit blonden Locken, bleibt über Jahre ihr einziger Gefährte, bis auch er sie verlässt. Einsam und scheu, von anderen verspottet, zieht sich immer weiter zurück.

»Kya kannte die Zeiten von Ebbe und Flut auswendig, konnte anhand der Sterne ihren Weg nach Hause finden, kannte jede Feder an einem Adler, aber selbst mit vierzehn konnte sie … nicht lesen.«

Das Buch lebt durch bildhafte Naturbeschreibungen, die eine sehr intensive Atmosphäre zeichnen, der ich mich nicht entziehen konnte. Ich hatte in jedem Moment die einzigartige Marschlandschaft vor Augen. Owens ist Zoologin, was man auch an vielen kleinen Details sieht, wenn es zum Beispiel um Vogelfedern geht, die eine große Bedeutung in Kyas Leben spielen.

Kya ist eine starke, unbeugsame und zugleich verletzliche Figur, die eine bemerkenswerte Entwicklung durchmacht. Es gibt einige sehr gute Szenen im Buch, die mich sehr berührt haben, wenn es darum ging, wie sie zarte Freundschaftsbande knüpft, nur um am Ende von fast allen enttäuscht zu werden, die ihr etwas bedeuteten. Alle rund um Kya fand ich glaubwürdig und nachvollziehbar im Rahmen der Geschichte. Bis auf eine Sache, zu der komme ich gleich.

Delia Owens hat einen sehr eingängigen Schreibstil, so dass ich das Buch in zwei Tagen verschlungen hatte. Hin und wieder waren die Dialoge etwas holprig und ungelenk, aber es war auszuhalten. Und auch wenn die Liebe zu Tate etwas kitschig rüberkam, so standen mir doch ab und zu die Tränen in den Augen. Das ist auch der Grund, warum ich mir den Film nicht ansehen werde. Wer heult schon gern im Kino?
Owens hat ein klares Bild der Gesellschaft in den 50er und 60er Jahren gezeichnet, mit deutlicher Kritik. Die allerdings unglaubwürdig wird nach dem Gerichtsprozess. Reines Hollywooddenken, was nicht nötig gewesen wäre. Ebenfalls enttäuscht bin ich vom letzten Kapitel, das in rasender Geschwindigkeit erzählt wurde, nur um Ende noch eine Überraschung zu kredenzen. Schade.
Vielleicht habt ihr ja auch den Vergleich zu Whitakers Buch »Von hier bis zu Anfang« gelesen, dem viele nicht zustimmen können. Ich auch nicht. Für mich hatte Whitakers Buch viel mehr Tiefgründigkeit und atmosphärische Dichte, die nichts beschönigte und verkitschte. Aber das ist wohl auch der Unterschied, dass es Dramen seltener in Hollywood auf die Leinwand schaffen.
»Der Gesang der Flusskrebse« ist ein sehr gutes Buch, was ich mit Freuden gelesen habe, das aber inhaltlich sehr viel wollte und von einigen Längen hätte befreit werden müssen. Trotzdem würde ich es allen empfehlen, die gern spannende Herzschmerzgeschichten mit Substanz lesen.

Klappentext

„Ein schmerzlich schönes Debüt, das eine Kriminalgeschichte mit der Erzählung eines Erwachsenwerdens verbindet und die Natur feiert.“ The New York Times

Chase Andrews stirbt, und die Bewohner der ruhigen Küstenstadt Barkley Cove sind sich einig: Schuld ist das Marschmädchen. Kya Clark lebt isoliert im Marschland mit seinen Salzwiesen und Sandbänken. Sie kennt jeden Stein und Seevogel, jede Muschel und Pflanze. Als zwei junge Männer auf die wilde Schöne aufmerksam werden, öffnet Kya sich einem neuen Leben – mit dramatischen Folgen. Delia Owens erzählt intensiv und atmosphärisch davon, dass wir für immer die Kinder bleiben, die wir einmal waren. Und den Geheimnissen und der Gewalt der Natur nichts entgegensetzen können.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-453-42401-2
Verlag: Heyne Verlag
Erscheinungsjahr: Juni 2022
Übersetzung: Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Seiten: 460, Taschenbuch

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Über ein.lesewesen 314 Artikel
Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger

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