Werbung, ich bedanke mich bei Kiepenheuer & Witsch für das Rezensionsexemplar.
Blandine ist die tragische Heldin im Kaninchenstall, einem heruntergekommenen Wohnblock in der fiktiven Stadt Vacca Vale, Indiana. Mitten im »Rust Belt«, in den ehemaligen Industriehochburgen, wo die Zukunftsaussichten heute gegen null gehen. Die 18-Jährige hat bereits einiges hinter sich, von Pflegefamilie zu Pflegefamilie geschoben, beginnt sie ein Verhältnis mit ihrem Musiklehrer, bricht die Schule ab, obwohl sie als hochintelligent gilt. Sie arbeitet in einem Diner als Bedienung und wohnt mit drei jungen Kerlen zusammen, die aus Spaß Tiere töten und ständig high sind. Das kontaktscheue Mädchen ist der Mystikerin H. v. Bingen verfallen und träumt davon, ihren Körper zu verlassen. In dem Moment, wo sie es tatsächlich tut, startet die Geschichte und wir machen einen Schwenk quer durch die verschiedenen Appartements voller hoffnungsloser Existenzen, die, nur getrennt durch papierdünne Wände, nicht umhinkommen, am Leben ihrer Nachbarn teilzuhaben. Eine psychisch kranke Mutter, die Angst vor den Augen ihres Babys hat; ein verzweifelter Mann, der ein Online-Date sucht und nur Ablehnung erfährt; eine Frau, die auf einem Online-Portal für Nachrufe Kommentare moderiert und am liebsten ungesehen bleiben will.
Hinzu kommt eine ehemalige Hollywood-Kinderschauspielerin, die ihren eigenen Nachruf schreibt und ihr Sohn, der als »fluoreszierender Mann« einen Racheakt plant. Und, und, und.
All die Schicksale rasen mit immenser Geschwindigkeit auf sich zu und kehren zu dem Moment zurück, als Blandine ihren Körper verlässt.
Was sich verrückt anhört, ist es auch. Und ich brauchte drei Anläufe, um in die Geschichte zu finden. Im 1. Drittel hatte ich nur Fragezeichen im Kopf und ich kann gut verstehen, wenn viele das Buch frühzeitig abbrechen. Im letzten Drittel wurde es besser, was mich etwas besänftigt hat. Vollgepackt mit bissiger Gesellschaftskritik, von Machtmissbrauch, sozialer Ungerechtigkeit, Chancenlosigkeit bis hin zu falschen Versprechungen der Politik fühlte sich das wie eine rasante Achterbahnfahrt an.
Guntys Blickwinkel auf die gescheiterten Existenzen ist ein anderer, wenig Empathie erzeugender, deprimierender Blick. Sie will aufrütteln, provozieren, das gelingt ihr sicher auch. Ja, es ist schrill, hier wird das Stilmittel der Übertreibungen ausgereizt, hier wird mit Textstilen gespielt, was letztlich auch Sinn macht, da Reizüberflutung eine große Rolle spielt, Internet, TV, Werbung, alles prasselt unaufhörlich, ungefiltert auf die Menschen ein. Hier wird zwischen den Perspektiven gesprungen, in der Chronologie, im Erzählstil – das erfordert Aufmerksamkeit, sonst endet es im Chaos. Das, was Gunty hier macht, ist sicher innovativ und modern, bleibt aber Geschmacksache.
Tess Gunty hat unumstritten Talent. Manche Kapitel sind rhetorisch so stark, dass ich pausenlos zitieren könnte. Doch die Kluft zu anderen Kapiteln wird damit um so größer, in denen die Vergleiche hinken, die Formulierungen angestrengt originell sein wollen. Und dann die pausenlosen Aufzählungen und Wiederholungen, puh. Das wurde mir mit der Zeit zu anstrengend. Insgesamt hinterlässt es bei mir den Eindruck, als seien die einzelnen Geschichten unabhängig voneinander entstanden und hinterher zusammengefügt worden.
Dann schweift sie wieder ab, will viel, manchmal zu viel, findet spät zu Blandine zurück. Vielleicht bin ich da altmodisch, aber fragmentierte Geschichten, die sich als experimentelles Konstrukt erweisen, sind nichts für mich. Ihr komplettes freakig, absurdes Figuren-Panoptikum agiert für sich und scheint nur geschaffen, um all die großen Themen eines Gesellschaftsromans unterzubringen. Zum Teil zeigt sie es sehr eindrucksvoll, andere Szenen waren für mich total überflüssig, weil sie zu nichts führen. Sprachlich grenzen sich die Figuren nicht voneinander ab und manche langweilten mich, sodass ich ganze Kapitel quer gelesen habe.
Vielleicht war es etwas zu überambitioniert, was mich am Ende völlig erschlagen hat. Leider konnte mich die Geschichte emotional nicht erreichen.
Mich hatte die Sichtweise einer jungen Autorin auf das Thema der aussterbenden Industriestädte interessiert im Gegensatz zu Russo, den ich inzwischen zu schätzen weiß und zu dem ich auch zurückkehren werden.
Wie gesagt, es ist einfach Geschmacksache.
Klappentext
Die ätherische Blandine, die eine Obsession für Hildegard von Bingen entwickelt hat und durch das System gefallen zu sein scheint, lebt nur durch die dünnen Wände eines schäbigen Apartmentkomplexes in einem ehemaligen Industrieort in Indiana von ihren skurrilen Nachbarn getrennt: einer Frau, die online Nachrufe schreibt, einer jungen Mutter mit einem dunklen Geheimnis, und jemandem, der im Alleingang einen Feldzug gegen Nagetiere führt. Willkommen im Kaninchenstall. Ein Roman über den amerikanischen Rust Belt und seine Bewohner, die keineswegs alle über einen Kamm zu scheren sind, wie man fälschlicherweise annehmen könnte.
Eine schonungslos schöne und beißend komische Momentaufnahme des zeitgenössischen Amerikas, eine hinreißende und provokante Geschichte über Einsamkeit und Sehnsucht, Verstrickung und schließlich: Freiheit.
Bibliografische Angaben
ISBN: 978-3-462-00300-0
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Erscheinungsjahr: 4. Juli 2023
Übersetzung: Sophie Zeitz
Seiten: 416, Hardcover
Über die Autorin
Tess Gunty ist in South Bend, Indiana, geboren und aufgewachsen. Sie hat Kreatives Schreiben an der NYU studiert. Gunty lebt in Los Angeles. »Der Kaninchenstall« ist ihr erster Roman.
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