Werbung, mein Dank geht an den Dumont Verlag für das Rezensionsexemplar.
Kurz nach dem Tod ihres Mannes Louis zieht Frieda Tendeloo ins Pflegeheim. Plötzlich ist sie allein, alles um sie herum ist fremd, von dem, was sie besaß, ist ihr nicht viel geblieben und der Rest wird derweil von ihrem Sohn und seiner schwangen Frau auf dem Sperrmüll entsorgt. In den einsamen Stunden drängen nach und nach alte Erinnerungen ans Licht.
Damals in den 60ern lebte sie mit Anfang 20 noch bei ihren Eltern. Eingeengt von deren autoritären Erziehung und konservativen Wertvorstellungen blieb kaum Freiraum für ihre persönliche Entwicklung, geschweige denn für ihre Träume und Wünsche. Dann verliebte sie sich in den verheirateten Otto und wurde trotz aller Vorsicht schwanger – ein absoluter Skandal, vor allem für ihre Eltern.
»Du bist eine ordinäre Schlampe!« … die Worte ihrer Mutter.
»Du musst es zur Welt bringen und danach vergessen.« … die Worte ihres Vaters.
Diese Worte blieben mir beim Lesen fast im Hals stecken. Für mich unvorstellbar, aber in der damaligen Zeit wohl keine Seltenheit.
Jetzt mit über achtzig Jahren kehren alle Erinnerungen zurück, die sie verdrängt und nie jemandem erzählt hat. Auch nicht ihrem Louis, den sie später geheiratet hat und mit dem sie sehr glücklich war. Doch sie spürt, dass das Erlebte heraus muss, dass sie sich endlich aussprechen muss.
Was für eine emotionale Achterbahnfahrt. Schon bei Friedas erster Nacht im Heim hatte der Autor mich emotional voll am Wickel. Vielleicht liegt es an meinem Alter und dass mich vielleicht nicht mehr allzu viele Jahre von dem Thema Pflege trennen. Es war fast fühlbar, wie unsicher Frieda war in der neuen, fremden Umgebung, wie sie unwirsch wird, ihr alles zu viel wird. Ihre Scham, auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen zu sein. Die Spannungen zwischen ihr und ihrem Sohn, das Unverständnis füreinander. Langsam reift in ihr der Vorsatz, ihre Vergangenheit zu verarbeiten und nicht mehr zu schweigen.
Auch die junge Frieda mit ihrer Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben, nach Freiheit, Liebe und Verständnis, konnte Robben sehr authentisch einfangen. Doch ab dem Moment, als sie ihre Schwangerschaft nicht mehr verheimlichen konnte, hat es mich innerlich zerrissen. Ich war schockiert, weil es sich trotz Fiktion so real angefühlt hat. Robben hat einen sehr einfühlsamen Schreibstil, sehr lebendig und schafft eine Atmosphäre, der man sich nicht entziehen kann. Die abwechselnden Zeitebenen in jedem Kapitel treiben die Geschichte in einer Geschwindigkeit voran, dass mancher Krimi daneben verblassen würde. Verschnaufpausen sind kaum drin.
Ich denke, die meisten von uns kennen die 60er Jahre nur aus Erzählungen, zumindest geht es mir so. Dennoch ist uns das Rollenbild der Frau aus der Zeit bekannt. Sittsamkeit, Jungfräulichkeit, Unterordnung werden von der Kanzel gepredigt. Und »ist es doch mal passiert«, schweigt man es tot, löst man es ungesehen vor der Nachbarschaft, ja sogar vor dem Rest der Familie. Und die Lösung hieß in den meisten Fällen, dass die Mutter das Kind wegzugeben hatte. Und die Kirche hatte dabei keinen unerheblichen Anteil.
Mit Frieda hat Robben hier stellvertretend eine Frauenfigur geschaffen, die dieses Schicksal duldsam, schweigsam hinnahm, die ohnmächtig gegenüber der damaligen Moralvorstellungen war. Die aber beeindruckende Stärke zeigte, sich nicht dem Schicksal untergeordnet hat und mit Louis eine zweite Chance auf eine glückliche Beziehung bekam und Mutter wurde.
Ich möchte nicht zu viel verraten, denn das Buch hält noch etliche Überraschungen parat, gute wie schlechte. Ich kann an der Stelle nur eine dicke Leseempfehlung aussprechen.
Mein Dank geht auch den Dumont Verlag, der mich mit dem Rezensionsexemplar überrascht hat. Beigefügt war ein Brief des Autors, in dem er sehr berührende Worte gefunden hat, wie er zu dieser Geschichte gekommen ist. (Ich kann hier leider nur Andeutungen machen, da ich nicht spoilern will.)
Er schreibt, dass er sich bei der Recherche nicht bewusst war, in welchem Ausmaß das damals vorgekommen sei, dass er sich mit vielen Müttern im hohen Alter unterhalten hat, die darüber nie irgendjemanden etwas erzählt haben. Er schreibt auch, dass diese Praktik nicht nur in den Niederlanden und Belgien, sondern auch in England, Frankreich und großen Teilen von Deutschland an der Tagesordnung gewesen sei. Dies macht für mich natürlich die Geschichte umso nachfühlbarer. Vielleicht arbeitet sie deshalb noch ununterbrochen in mir.
»Ich wollte zeigen, wie stille Traurigkeit Teil des Wirrwarrs eines langen Lebens sein kann. Wie sie Teil eines »glücklichen Lebens« sein kann.«
Danke an Jaap Robben, dass ich stellvertretend für all diese Frauen Frieda Tendeloo kennenlernen durfte.
Klappentext
Die junge Floristin Frieda wächst in den Sechzigerjahren in einem streng katholischen Umfeld auf. Als sie an einem späten Winternachmittag einen zugefrorenen Fluss betritt, weiß sie nicht, dass sich gleich alles für sie verändern wird. Auf dem Eis trifft sie den verheirateten Otto. Sie erleben eine Liebe, die stürmisch beginnt und schicksalhaft endet: Frieda wird schwanger – ein Skandal in der Welt, in der sie sich bewegt. Und so darf sie ihrem heimlichen Kind nie Mutter sein. Jahrzehntelang behält sie die Erinnerungen an diese Episode ihres Lebens für sich. Doch die Trauer um das verlorene Kind bleibt, trotz der späteren Heirat, trotz des Sohns, den sie noch bekommt. Im Alter von einundachtzig Jahren ist Frieda plötzlich wieder allein. Der stille Kummer kehrt mit Wucht zurück. Erst da wagt sie, sich ihrer Geschichte zu stellen – und sie zu teilen.
Bibliografische Angaben
ISBN: 978-3-8321-6818-6
Verlag: Dumont Verlag
Erscheinungsjahr: 15. August 2023
Übersetzung: Birgit Erdmann
Seiten: 332, Hardcover
Über den Autor
Jaap Robben, geboren 1984, ist ein niederländischer Dichter, Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer. Seit 2004 publiziert er Lyrik, Romane, Jugendbücher und Essays. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, die Romane verfilmt und in mittlerweile fünfzehn Sprachen übersetzt. ›Birk‹ (2015) wurde mit dem niederländischen Buchhandelspreis ausgezeichnet. Mit seinem Roman ›Summer Brother‹ stand er auf der Longlist des International Booker Prize. Jaap Robben lebt in Deutschland.
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