BIS IN ALLE ENDLICHKEIT – James Kestrel

Danke an Suhrkamp Verlag für das Rezensionsexemplar.

Seit Chandler, Hammett und Macdonald klafft in der Sparte Noir eine große Lücke, umso neugieriger wurde ich, als ich auf dem Einband las: »Wenn Chandler heute leben würde, würde er wie Kestrel schreiben. Ja, so gut ist der Kerl.« (Joe Hartlaub) Nun mit großen Ankündigungen ist das ja immer so ein Ding. Hält das Buch, was es verspricht?

Tenderloin, ein schäbiges, heruntergekommenes Viertel in San Francisco – Privatdetektiv Lee Crowe hat gerade die letzten Spuren seiner brisanten Ermittlung verwischt, als er vor einem Hotel einen verbeulten 300.000-Dollar-Rolls-Royce entdeckt, auf dem eine blonde Frau im Cocktailkleid liegt – tot. Statt die Polizei zu rufen, schießt Lee, der eigentlich gar nicht hier sein dürfte, ein paar Fotos, um sie später der Presse zu verkaufen. Ein willkommenes Zubrot, falls er mal wieder knapp bei Kasse sein sollte. Man weiß ja nie, vielleicht war die Tote ja berühmt, dann würde es sich finanziell lohnen. Dass Lee mit dieser Aktion in ein Wespennest stochert, ahnt er zu dem Zeitpunkt noch nicht. Für die Polizei ist der Fall klar, die junge Frau hat sich vom Hochhaus gestürzt. Doch damit findet sich Olivia Gravesend, eine der reichsten und einflussreichsten Frauen, nicht ab, und heuert Lee an, um den Tod ihrer Tochter Claire aufzuklären. Bei seinen Nachforschungen stößt er auf eine junge Frau, die Claire nicht nur zum Verwechseln ähnlich sieht, sondern auch noch die gleichen, kreisrunden Narben vom Hals abwärts auf ihrer Wirbelsäule trägt. Wie kann das sein, wenn Claire doch ein Einzelkind war?

Kestrel entführt uns mit seinem klassischen kalifornischen Detektivroman in die Welt der Schönen und Reichen im modernen San Francisco. Ein Hauch Silicon Valley, wo innovative Entwicklungen die Zukunft verändern können – falls man es sich leisten kann.

Mit Lee hat Kestrel eine Figur geschaffen, die serientauglich ist. Nicht ganz so hart gesotten wie ein Philip Marlowe, aber so sympathisch, dass ich gern mehr von ihm lesen würde. Der einsame Privatermittler, der nach einer Entgleisung tief gefallen ist, sowohl seine Zulassung an Anwalt als auch seine Frau verloren hat, arbeitet nicht immer mit legalen Mitteln, seine übermächtigen Gegner allerdings auch nicht. Denn wenn Geld keine Rolle spielt, schreckt man auch nicht vor einem Mordanschlag zurück, dem Lee nur knapp entgeht. Bald wird ihm klar, dass er Freund und Feind nicht mehr unterscheiden kann.

Kestrel hält sich nicht nur mit dem typischen Ich-Erzähler dicht am Noir-Stil, der perfekt in die Story reinzieht. Er zeichnet auch ein düsteres Bild von der realen Welt und deren Möglichkeiten, wenn moderne Technologie, grenzenlose Gier und Reichtum aufeinandertreffen.
An sein prämiertes Kriegsepos »Fünf Winter« reicht dieses Buch vielleicht nicht heran, aber ich habe die Noir-Vibes gespürt und er hat mich von der ersten Seite an nicht vom Haken gelassen. »Bis in alle Endlichkeit« kann durchaus mit der klassischen amerikanischen Detektivliteratur mithalten. Eine Empfehlung für alle, die Thriller mit Niveau mögen, bei denen es nicht nur spannend und blutig wird, sondern auch düster – vor allem was die Zukunftsaussichten angeht.

Klappentext

Als eine junge Frau tot aufgefunden wird, in einem feinen Cocktailkleid, auf dem Dach eines Rolls-Royce liegend, im gefährlichsten Viertel von San Francisco, gehen Polizei und Gerichtsmedizin von Selbstmord aus. Doch die Mutter der Toten, die megareiche Olivia Gravesend, glaubt ihnen kein Wort und beauftragt Privatdetektiv Lee Crowe mit den Ermittlungen. Bei seinen Recherchen kommt er einer Verschwörung auf die Spur, bei der die Beteiligten vor nichts zurückschrecken …

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-518-47435-8
Verlag: Suhrkamp Verlag
Erscheinungsjahr: 9. September 2024
Übersetzung: Stefan Lux
Seiten: 430, Hardcover

Über den Autor

James Kestrel ist ein Pseudonym von Jonathan Moore, Anwalt und Romancier. Bevor er sein Jurastudium in New Orleans abschloss, war er Englischlehrer, Wildwasser-Rafting-Führer auf dem Rio Grande, Besitzer von Taiwans erstem mexikanischen Restaurant, Betreuer in einem texanischen Wildniscamp für jugendliche Straftäter und Ermittler für einen Strafverteidiger in Washington, D.C. Er lebt mit seiner Familie auf Hawaii. Seine Bücher wurden in zwölf Sprachen übersetzt. Für Fünf Winter wurde er mit dem Edgar Award 2022 für den besten Roman des Jahres ausgezeichnet. Im Suhrkamp Verlag erschien zuletzt Poison Artist (2022), das im August 2022 auf der Krimibestenliste von Deutschlandfunk Kultur stand.

Weitere Bücher

Fünf Winter, Suhrkamp Verlag 2023

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Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger

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