Ich bedanke mich bei Vorablesen und Hanser Literarturverlag für das Rezensionsexemplar.
„Ich war angefressen. Mein ganzes Leben lang hat mir meine Mutter weisgemacht, dass es ihr schlecht ging. Drei Tage vor dem Tod kam sie mit der Neuigkeit daher, dass es ihr gut ging. Es musste ein Irrtum vorliegen. Wir waren die, denen es schlecht ging! Ich hatte mich daran gewöhnt, ich hatte mir die ewig gleiche Platte seit dem Tag meiner Geburt angehört. Schon in der Fruchtblase hatte ich mich eingeschwungen: Schlecht geht es uns. Jetzt ging es ihr auf einmal gut.“ S.7
Bei dem neusten Buch des österreichischen Autors ist die Covergestaltung spartanisch – ein verrutschter Exlibrisstempel auf Packpapier – und einen Klappentext sucht man vergeblich, dafür steht auf der Innenseite: »Nichts wie sparen, sparen, sparen.« Und darum geht es auch hauptsächlich. Die 95-jährige Mutter des Ich-Erzählers hat noch drei Tage zu leben und »ist nicht mehr ganz da«. Aus der ehemaligen Geburtenklinik, wo Wolf und seine Brüder zur Welt kamen, wurde ein Altersheim. Ein Kreis scheint sich zu schließen und Haas nimmt die letzten Tage zum Anlass, über das Leben seiner Mutter zu resümieren. »Kann man übers Leben schreiben?«, fragt er sich zu Beginn.
1923 im Jahr der Hyperinflation geboren, ist sie ihr ganzes Leben bestrebt, Eigentum, also Wohneigentum zu erwerben. Doch ihr Traum verflüchtig sich mit dem sinkenden Wert des Geldes, was sie dem kleinen Wolf, kaum, dass er den Kopf heben konnte, fast mantraartig bei jeder Gelegenheit vorbetet.
»Die drei Phasen des Bausparvertrages hielt ich für einen Kinderreim. Die Berechnung der Bewertungszahl beherrschte ich im Schlaf. Als ich in die Volksschule kam, war ich bereits Professor für Inflationstherorie.« S.37
Daraus wird über die Jahre eine Litanei, die Wolf bald im Schlaf daher beten konnte. Nun will er diese Gedanken ein für alle Mal loswerden und schreibt die Geschichte nieder. Dabei lässt er seine Mutter im heimatlichen Dialekt zu Wort kommen, samt nit und gell. Als Kind einer armen Familie wurde sie weggeben, da man nicht alle Kinder ernähren konnte, später als Kellnerin in der Schweiz, schickt sie fast alles Geld nach Hause – für den Hausbau der Eltern. Ihr Lebensmotto – schuften, schuften, schuften. Doch es soll ihr ein Leben lang nicht gelingen, lediglich 2 Quadratmeter – mit Absenklift – wird sie ihr eigen nennen, die letzte Ruhestätte auf dem Friedhof.
„Sie konnte blind tippen mit dem Zehnfingersystem, aber sie konnte nicht mit den Leuten, sie konnte einem Kind die Inflation erklären, aber sie konnte nicht mit den Leuten, sie konnte Englisch, sie konnte Französisch, sie konnte Generationen von Wirtskindern durch die Schule tragen, aber sie konnte nicht mit den Leuten“ S.117
Das Leben der Mutter war ein unspektakuläres, gezeichnet von Entbehrungen, wie wohl das, vieler anderer Frauen ihrer Generation. Mit viel grimmigen Witz und typischer Haas-Sprachironie peppt es der Autor immer wieder auf. Mal genervt, mal lakonisch aber letztendlich doch liebevoll schaut er auf das ambivalente Verhältnis zwischen ihnen zurück und setzt somit seiner Mutter, die 2018 starb, ein Denkmal.
Tropft auch aus einigen Gedanken des Ich-Erzählers der pure Sarkasmus (»Sie besaß nichts, aber sie war ein bisschen besessen«), so ist das wohl dem Umgang mit dem dauernden Lamento der Mutter geschuldet, sieht er sich doch als »Festplatte« ihrer Erinnerungen. Und so scheint das, was er ein für alle Mal vergessen wollte, nun doch zu überdauern.
Es ist ein kurzes, schnelles Buch, das trotz des sensiblen Themas nicht bedrückend wirkt oder das Leben der Mutter herabwürdigt. Seine unverkennbare Erzähl- und Ausdrucksweise, die ich in seinen Brenner-Krimis so mochte, ist auch hier eindeutig erkennbar, was das Buch für mich zu einem Genuss machte, auch wenn es von einigen Wiederholungen durchzogen war.
Kann er nun vom Leben schreiben – ja, er kann.
Haas ist ein Jongleur der Alltagssprache par excellence, ein bisschen sprachwahnsinnig nennt man ihn auch und ihn freut’s, wenn er nicht immer Subjekt und Prädikat schreiben muss, wie er sagt.
Klappentext
„Alles hin.“ Die Mutter, das Geld, das Leben. – Der neue Roman von Wolf Haas
„Ich war angefressen. Mein ganzes Leben lang hat mir meine Mutter weisgemacht, dass es ihr schlecht ging. Drei Tage vor dem Tod kam sie mit der Neuigkeit daher, dass es ihr gut ging. Es musste ein Irrtum vorliegen.« Mit liebevoll grimmigem Witz erzählt Wolf Haas die heillose Geschichte seiner Mutter, die, fast fünfundneunzigjährig, im Sterben liegt. 1923 geboren, hat sie erlebt, was Eigentum bedeutet, wenn man es nicht hat. „Dann ist die Inflation gekommen und das Geld war hin.« Für sie bedeutete das schon als Kind: Armut, Arbeit und Sparen, Sparen, Sparen. Doch nicht einmal für einen Quadratmeter war es je genug. Endlich wieder ein neuer Roman von Wolf Haas. Ein großes, berührendes Vergnügen.
Bibliografische Angaben
ISBN: 978-446-27833-2
Verlag: Carl Hanser Verlag
Erscheinungsjahr: 4. September 2023
Seiten: 157, Hardcover
Über den Autor
Wolf Haas wurde 1960 in Maria Alm am Steinernen Meer geboren. Für sein Werk erhielt er u. a. den Bremer Literaturpreis, den Wilhelm-Raabe-Preis und den Jonathan-Swift-Preis. Er veröffentlichte die Romane »Das Wetter vor 15 Jahren« (2006), »Verteidigung der Missionarsstellung« (2012) und »Junger Mann« (2017) sowie neun Brenner-Krimis, zuletzt »Müll« (2022). Bei Hanser erschien zuletzt »Eigentum« (2023). Wolf Haas lebt in Wien.
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