DAS MEER AM MORGEN – Margaret Mazzantini

Auf nur 128 Seiten bekommen wir hier eine Geschichte, die nicht gewaltiger sein könnte. Obwohl schon 2011 geschrieben, hat sie nichts an Aktualität verloren – leider.
Im Mittelpunkt der Geschichte stehen zwei Jungen und ihre Mütter. Zwei Familien, die ihre Wurzel in der arabischen Welt haben. Farid flieht 2011 mit seiner Mutter in einem überfüllten Boot vor den libyschen Schergen Gaddafis, in der Hoffnung auf ein besseres Leben am Ende des Horizonts.

»Jetzt will der Rais, dass sich das Mittelmeer mit armen Schluckern füllt, damit Europa das Fürchten lernt. Das ist seine beste Waffe. Das verfaulte Fleisch der Armen. Das ist Dynamit.«

Am anderen Ende des Mittelmeers steht Vito am Strand. Er findet ein Amulett, wie Mütter es in arabischen Ländern ihren Kindern schenken. Er weiß nur wenig von dieser Welt. Doch seine Mutter ist ebenfalls als Kind aus Libyen geflüchtet. Was sie nie loslässt, ist die Sehnsucht nach ihrer Heimat und ihren Freund Ali. Ihre Eltern kamen damals in die italienische Kolonie. Flohen vor einer Hoffnungslosigkeit in Sizilien, kehren zurück als Unerwünschte. Flüchtlinge im eigenen Land.

»Es waren die sechziger Jahre, sie kamen in eine oberflächliche Welt. Niemand interessierte sich für ihre Diaspora. Sie waren das dreckige Ende einer Kolonialgeschichte, die niemand mehr ausgraben wollte. Das war die eigentliche Verbannung, diese seelische Einsamkeit.«

Die Jungs erzählen uns von ihren Großeltern aus friedlicheren Zeiten, die nur innerhalb einer Generation in Krieg, Elend, Flucht und Verbannung enden. Was bleibt, ist Sehnsucht, Verzweiflung und Hoffnung.

Das Buch kam mit einer Wucht daher, mit so eindringlichen Bildern, die nur schwer zu ertragen waren. Poetisch, schonungslos und nicht anklagend findet Mazzantini Worte für ein Drama, das die meisten von uns nur aus dem Fernsehen kennen. Sie gibt den vielen Namenlosen eine Identität und berührte mich damit tief im Herz. Wie alle kennen die Bilder von dem toten Jungen am Strand, von Leichen, die mit ihren Schwimmwesten im Mittelmeer treiben, von Rettungsschiffen, denen man das Anlegen verweigert, von katastrophalen Verhältnissen in den Flüchtlingslagern. Wer wollte da am liebsten gar nicht hinschauen, weiterzappen?
In dem Buch kann man nicht weiterschalten, man muss hinschauen, mitfühlen und weinen.
128 Seiten, die mir schier das Herz zerrissen, mich gefesselt haben, die mich weinen ließen. Es ist auf Grund der Sprache einfach zu lesen und doch so schwer zu lesen. Wer den Mut hat, sich mit diesem Thema zu befassen, möchte ich das Buch wirklich empfehlen. Ein Buch, das mich aufwühlte, wie es nur das Meer kann.

»Erst jetzt verstand Vito, was Großvater Antonio gemeint hatte, als er sagte, die Geschichte des Menschen ist die Geschichte seines Hungers. Die Geschichte von Hungernden, die sich auf den Weg machen. Es ist der Hunger der Arme, der Siedler, der Flüchtlinge. Es ist der gierige Hunger der Mächtigen.«

Klappentext

Libyen, Sommer 2011: Jamila entgeht knapp Gaddafis Truppen. Mit ihrem kleinen Sohn Farid flieht sie quer durch die Wüste bis ans Meer. Ihre Ersparnisse überlässt sie einem Schlepper, der sie in ein überfülltes Boot verfrachtet. Jamila hofft auf eine Zukunft in Europa, doch schon bald mangelt es an Trinkwasser und Benzin. Schließlich hat sie nur noch einen Wunsch: länger durchzuhalten als ihr Sohn, um ihn nicht allein sterben zu lassen.
Auf Sizilien geht der achtzehnjährige Vito am Strand spazieren und findet eine Kette, wie sie arabische Kinder tragen. Er denkt an seine Mutter Angelina, die in Libyen aufgewachsen ist. Als Gaddafi an die Macht kam, musste sie nach Italien fliehen, aber die Sehnsucht nach der früheren Heimat lässt ihr keine Ruhe: Sie reist nach Tripolis und macht sich auf die Suche nach Ali, ihrer ersten großen Liebe. Doch Ali ist inzwischen beim libyschen Geheimdienst. Bestürzt kehrt Angelina nach Italien zurück, wo sie den Ausbruch des Bürgerkriegs und die Bombardements der NATO am Bildschirm verfolgt.
In eindringlichen Bildern erzählt Margaret Mazzantini von den individuellen Schicksalen, die sich hinter den aktuellen Ereignissen in der arabischen Welt verbergen.

Über die Autorin

Margaret Mazzantini wurde 1961 in Dublin als Tochter eines italienischen Vaters und einer irischen Mutter geboren. Ihre Karriere begann sie als Theaterschauspielerin. Ihre Romane ›Die Zinkwanne‹ und ›Geh nicht fort‹ (DuMont 2010) wurden zu internationalen Bestsellern. Allein ›Geh nicht fort‹ wurde in Italien über 1,5 Millionen Mal verkauft, in 32 Sprachen übersetzt und 2004 mit Penélope Cruz verfilmt. ›Das schönste Wort der Welt‹ wurde mit dem Premio Campiello 2009 ausgezeichnet. Margaret Mazzantini ist mit dem Schauspieler und Regisseur Sergio Castellitto verheiratet. Sie haben vier Kinder und leben in Rom.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-8321-6260-3
Verlag: Dumont Buchverlag
Erscheinungsjahr: 2011
Übersetzung: Karin Krieger
Seiten: 128, Taschenbuch

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Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger