Mit »Golden House« legte Salman Rushdie bereits 2017 einen Roman vor, der beeindruckend die Tragik und Absurdität unserer Gegenwart einfängt. Er tut dies mit einem schwindelerregenden sprachlichen Feuerwerk und einem Plot, der sich wie ein perfekt komponiertes Kammerorchester entwickelt. Dabei hält er der westlichen Welt, vor allem den USA, einen Spiegel vor, dessen Reflexionen unbequem, provokant und manchmal sogar schmerzhaft sind.
Die Geschichte beginnt mit der Ankunft der Familie Golden in einem exklusiven Viertel Manhattans, wo sie sich in einem prunkvollen Anwesen niederlassen. Nero Golden, der Patriarch der Familie, ist ein Mann mit einer dunklen Vorgeschichte. Er hat sich von Indien nach Amerika abgesetzt, um seiner Vergangenheit zu entkommen und eine neue Identität aufzubauen. Doch seine Vergangenheit holt ihn ein, und das prächtig aufgebaute Leben beginnt zu bröckeln.
Nero ist umgeben von seinen drei Söhnen, die alle auf ihre Weise dysfunktional sind: Petya, ein autistischer Savant, Apu, ein künstlerisches Wunderkind, und D, der jüngste, dessen Identitätssuche ihn auf eine gefährliche Reise führt. Diese drei Söhne spiegeln die inneren Konflikte und den moralischen Zerfall wider, den auch das Land durchmacht, in dem sie leben.
Was folgt, ist ein vielschichtiges Drama um Identität, Schuld, Macht und Verfall, eingebettet in den politischen Wahnsinn des Zeitgeschehens. Rushdie setzt das Leben der Goldens in Beziehung zu aktuellen gesellschaftlichen Themen wie dem Anstieg des Populismus, der Flüchtlingskrise, Fragen von Gender und Identität sowie den ethischen Dilemmata einer zunehmend polarisierten Welt.
Rushdie zeigt sich als scharfsinniger Beobachter der westlichen Kultur. Er seziert die Mechanismen von Macht und Selbstinszenierung und liefert das Abbild einer Gesellschaft, die sich in Oberflächlichkeiten verliert, während sie ihre eigenen moralischen Grundsätze untergräbt. Durch den Charakter von Nero Golden zieht er Parallelen zu Trump – nicht subtil, sondern mit dem ihm eigenen Sarkasmus. Golden, dieser selbsternannte römische Kaiser mit seinem dekadenten Lebensstil und seiner völligen Amoralität, steht für eine politische Klasse, die im modernen Amerika das Zepter schwingt. Rushdie nimmt die politische Dekadenz des Landes aufs Korn, indem er sie mit dem Verfall des Römischen Reiches vergleicht. Ein besonders bissiger Seitenhieb gilt dem Aufstieg des »Joker« zum Präsidenten — ein klarer Seitenhieb auf Donald Trump und den allgemeinen Verfall des öffentlichen Diskurses.
Doch Rushdie beschränkt seine Kritik nicht nur auf die Mächtigen. Auch die intellektuelle Elite bekommt ihr Fett weg, jene selbstgerechte Schicht, die sich für aufgeklärt hält, aber oft ebenso blind für die Sorgen und Nöte der einfachen Menschen ist. Es ist diese subtile Doppelbödigkeit, die »The Golden House« so faszinierend macht: Der Autor hält uns vor, dass der moralische Verfall nicht allein auf die Mächtigen beschränkt ist, sondern uns alle betrifft.
Rushdies Erzählstil ist, wie gewohnt, ein Wunder an literarischer Virtuosität. Er lässt Nero Golden und seine Söhne aus der Perspektive des jungen Filmemachers René schildern, der sich anschickt, das Leben dieser Familie zu dokumentieren. René dient dabei nicht nur als Chronist, sondern auch als moralische Instanz, wobei seine Objektivität immer wieder infrage gestellt wird. Dieser Kunstgriff ermöglicht es Rushdie, das Spiel mit Wahrnehmung und Realität fulminant auszureizen. Die Verknüpfung von filmischen Techniken und literarischem Erzählen verleiht der Geschichte eine fast surreale Qualität.
Der Roman changiert zwischen verschiedenen Erzählebenen, Historie und Mythos, Realität und Fiktion. Die dichte Symbolik und die vielen intertextuellen Verweise, die von Shakespeare über die griechische Tragödie bis hin zur modernen Popkultur reichen, fordern uns Leser*innen, belohnen uns aber mit einem unvergleichlichen Leseerlebnis. Hier wird jede Seite zum Mosaikstein in einem größeren, komplexeren Bild, das sich erst im Verlauf der Lektüre allmählich zusammensetzt.
Eines der größten Talente Rushdies ist zweifellos seine Fähigkeit, vielschichtige, ambivalente Charaktere zu erschaffen. Keine der Figuren in »Golden House« ist einfach nur gut oder böse — und genau das macht sie so faszinierend. Nero Golden ist zweifelsohne eine monströse Figur: Ein Mann, der vor nichts zurückschreckt, um seine Ziele zu erreichen, und dessen Vergangenheit voller finsterer Geheimnisse steckt. Doch gleichzeitig ist er ein gebrochener Mann, der unter dem Gewicht seiner eigenen Schuld fast zu zerbrechen droht. Wie alle großen tragischen Figuren ist er sowohl Täter als auch Opfer, sowohl Herrscher als auch Gefangener seiner eigenen Dämonen.
Auch die drei Söhne sind alles andere als eindimensionale Charaktere. Petya, der an autistische Älteste, ist ein brillanter, aber tragisch unvollkommener Mensch. Apu, der Künstler, ringt mit den Fragen von Erfolg und Identität, während der jüngste Sohn, D, mit den Erwartungen seiner Familie und den Anforderungen einer modernen, fluiden Geschlechtsidentität zu kämpfen hat. Diese Ambivalenz durchzieht den ganzen Roman: Rushdies Figuren sind komplex, widersprüchlich, und genau deshalb so menschlich. Sie erwecken Mitgefühl, aber auch Abscheu; sie faszinieren und stoßen gleichzeitig ab.
Fazit
»Golden House« ist ein grandioser Roman, der auf vielen Ebenen funktioniert: als Gesellschaftsporträt, als literarisches Spiel, als tragische Familiengeschichte. Rushdie gelingt es, eine kritische Bestandsaufnahme unserer Zeit zu liefern, ohne dabei in Plattitüden oder Schwarz-Weiß-Denken zu verfallen. Seine Figuren sind lebendige, tiefgründige Wesen, die uns gerade durch ihre Widersprüchlichkeit so vertraut erscheinen. Es ist ein Roman, der zum Nachdenken anregt, der schockiert, erheitert und zuweilen sogar tröstet. Rushdie zeigt sich hier auf der Höhe seines Schaffens — und und ich bin froh, dieses ältere Buch, was seit Jahren in meinem Regal stand nun doch gelesen zu haben. Denn eines ist sicher: »Golden House« wird mir lange im Gedächtnis bleiben. Und das ist — wie bei allen großen Büchern — ein Zeichen dafür, dass Salman Rushdie hier ein Meisterwerk geschaffen hat (nicht sein einziges).
Klappentext
Nero Golden kommt aus einem Land, dessen Namen er nie wieder hören wollte, seit er mit seinen drei erwachsenen Söhnen vor ein paar Jahren nach New York gezogen ist und sich eine junge Russin zur Frau genommen hat. Der junge Filmemacher René wohnt im Nachbarhaus und ist fasziniert von der Familie, die ihm besten Stoff für ein Drehbuch liefert: Aufstieg und Fall eines skrupellos ehrgeizigen, narzisstischen und mediengewandten Schurken, der Make-up trägt und sich die Haare färbt. René wird Zeuge und in einer folgenschweren Episode sogar Teilhaber des dekadenten Treibens im Golden House, dessen Besitzer nicht nur den Vornamen mit Kaiser Nero teilt …
Salman Rushdie erfasst den irritierenden Zeitgeist und zeichnet mit größter Erzählkunst ein treffendes Bild unserer heutigen Welt. Dieser Roman beweist aufs Neue, dass er einer der besten Geschichtenerzähler unserer Tage ist.
Bibliografische Angaben
ISBN: 978-3-5701-0333-3
Verlag: C.Bertelsmann Verlag
Erscheinungsjahr: 2017
Seiten: 512, Hardcover
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