Nives von Sacha Naspini

Dieses Buch musste ich erst mal wirken lassen, bevor ich es besprechen konnte oder wollte. Nicht, weil es schwere Kost wäre oder einen problematischen Inhalt hatte, sondern ganz einfach, weil es so ungewöhnlich ist.
Zur eigentlichen Geschichte will ich nur sehr wenig sagen, ich habe bei allen Details die Sorge zu spoilern.
Eines Morgens findet Nives ihren toten Mann im Schweinegatter liegend, vom Schwein schon angeknabbert. Sie erschießt das Schwein. Alles geschieht völlig unaufgeregt. An den folgenden Tagen wird es still in Nives Heim, weshalb sie sich ein Huhn ins Haus holt. Ein prächtiger Ersatz für Ihren verschiedenen Ehemann und Nives Welt scheint wieder im Lot zu sein. Dummerweise wird das Huhn von einer Waschmittelwerbung hypnotisiert; der Tierarzt muss angerufen werden.
Und damit beginnt die absurd realistische Geschichte. Sacha Naspinis ungewöhnlicher Roman bietet in einem einzigen Telefongespräch, das von den Abendstunden bis ins Morgengrauen dauert einen Schlagabtausch der Geschlechter. Nicht selten will der Tierarzt, der eigentlich nicht den Abend mit Nives telefonierend verbringen möchte das Gespräch beenden. Doch immer wieder wirft sie ihm einen Brocken, wie einen Köder, hin und jedes Mal beißt er an.

Völlig unschuldig gaukelt uns das Cover eine heile Welt vor, doch es reichen wenige Seiten, zu begreifen, dass der Roman nicht idyllisches Dorfleben zeigt. Schnell wird klar, dass hier eher die niederträchtigen Seiten kleingeistiger Menschen ihre Wirkung entfalten. Ich konnte Nives und den anderen Personen nur wenig Sympathisches abgewinnen, wohl aber viel menschliches Verhalten nachvollziehen. Enthüllungen, Verleumdungen, Geständnisse – ein auf und ab, gewürzt mit enttäuschter Liebe, einer sitzengelassener Schwangeren und sogar einem ermordeten Künstler.
Wer sagt, man könne nichts Neues mehr schreiben, es habe alles schon gegeben, der hat Nives noch nicht gelesen. Naspini lässt uns Außenstehende einen Blick in das Dickicht aus Lügen, Täuschung, Ignoranz, Manipulation und sogar Gewalt, einer verschworenen Clique, werfen.

Naspinis Erzählstil zeichnet sich durch eine treffende Sprache, die manchmal schroff, ja fast obszön ist, aus. Der Humor ist grenzwertig und das meine ich durchaus im positiven Sinne. Ich habe noch kein Buch zuvor gelesen, das so spaßige Unterhaltung bot, während es zugleich dramatisch verstörend war.
Ein Roman, den ich nicht aus der Hand legen konnte, anfangs wegen des feinen, sarkastischen Humors, und des teils atemberaubenden Tempos, dann wegen seiner unvorstellbaren Enthüllungen.
Und jetzt merke ich, wem Nives die Köder vor die Nase gehalten hat, nicht dem Tierarzt, sondern mir. Ein Roman, den ich nur empfehlen kann.

Klappentext:

Nives hat kürzlich ihren Mann verloren, nach langjähriger Ehe. Zuerst gefasst, bald aber einsam auf ihrem Hof, beschließt sie, ihr Lieblingshuhn Giacomina ins Haus zu holen, und muss erstaunt feststellen, wie gut ihr diese Gesellschaft tut. Als Giacomina sich eines Abends plötzlich nicht mehr bewegt, weil sie zu lange auf die Waschmaschinenwerbung gestarrt hat, gerät Nives in Panik: Sie ruft Loriano Bottai an, den befreundeten Tierarzt, den sie wie alle anderen Dorfbewohner seit Jahrzehnten kennt. Was folgt, ist ein Gespräch, das wiederholt unerwartete Wendungen nimmt, Unausgesprochenes entlarvt, Beziehungsgeflechte offenlegt, in die Abgründe einer verpassten Liebe blicken lässt und schlussendlich die Frage stellt, was ein Leben eigentlich ausmacht – die verpassten oder die gelebten Chancen?

Bibliografische Angaben:

ISBN: 978-3-0369-5891-0
Verlag: Kein & Aber Verlag
Erscheinungsjahr: 13. Oktober 2022
Übersetzung: Walter Kögler
Seiten: 158, Hardcover

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