Werbung. Herzlichen Dank an den Urachhaus Verlag für das Rezensionsexemplar.
Paul wächst mit seinem Freund Pavel und seiner Freundin Marie in Brünn auf. Auch wenn seine Familie seit Jahrhunderten auf tschechischem Terrain lebt, sind sie kurz nach Kriegende die geächteten Deutschen, werden in kleinere Kellerwohnungen umgesiedelt, von der Verteilung von Lebensmittelmarken ausgeschlossen und müssen eine rote Armbinde mit einem weißen N tragen. N für Němec – Deutsche. 1945 werden sie aus Brünn vertrieben.
Paul lebt später mit seiner Familie in der Nähe von München. Seinen Kindern Maria und Uli ist er ein guter Vater. Doch noch Jahre später, als sie selbst Erwachsen sind, wissen sie nicht, wer ihr Vater eigentlich ist. Mit über 50 machen sie sich auf den Weg in die Vergangenheit, um Antworten, aber auch sich selbst zu finden.
Das Buch ist keine Biografie, es ist die Auseinandersetzung der Autorin mit ihrer eigenen Vergangenheit. Und dennoch hatte ich immer das Gefühl, es hätte genau so stattgefunden haben können. Im ersten Teil folgen wir Paul, dessen Kindheit ein abruptes Ende findet, als seine Familie mit 27.000 anderen Deutschen an Fronleichnam, den 31. Mai 1945 wie Vieh aus Brünn rausgetrieben wurden.
»In die wellige, freundliche Landschaft wollen die Menschen nicht passen, auch nicht die Angst und das leise Weinen, nicht die Peitschenschläge an den Seiten und schon gar nicht die lauten Schüsse, die immer wieder von vorne und hinten zu hören waren.« S.46
Das, was Paul auf dem Todesmarsch erlebt, wird in aller Grausamkeit geschildert. Die Autorin nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um die Tote geht, die am Wegesrand zurückbleiben. Das muss man aushalten können, es hat mich einige Tränen gekostet. Paul ist der Einzige aus seiner Familie, der überlebt – 5200 andere nicht.
Im 2. Teil sind Maria und Uli erwachsen und so unterschiedlich, wie nur Geschwister sein können. Uli, der einsam in seiner Schusterwerkstatt sitzt und sich fragt, welche Träume er im Leben verpasst hat. Maria, die Aufbrausende, die gern ihr Leben selbst bestimmt. Und doch haben sie ein gemein, sie scheinen in ihrem Leben nicht angekommen zu sein. Und sie ahnen, dass es mit der Vergangenheit ihres Vaters zu tun hat. Fragen ist Paul immer ausgewichen, hat sich lieber mit seinen Rosen abgelenkt. Aber auch die Geschwister haben irgendwann aufgehört zu fragen, denn die Antwort war immer: »Später, Liebchen, später erzähl ich dir. Nicht jetzt Mariechen, nicht heute, Uli. Ich geh jetzt noch in den Garten, Rosen schneiden. Ach, wenn du nur geredet hättest, Vater.« S.155
Im letzten Teil begleiten wir die beiden auf ihrer Reise nach Brno. Doch nach so vielen Jahren ist die Spurensuche schwierig, aber nicht aussichtslos. Spürbar wurde hier auch die Aussöhnung, der unbefangene Umgang einer neuen Generation. Am Ende gehen Maria und Uli den gleichen Weg von Brno bis Wien, den ihr Vater gegangen ist.
Susanne Benda wirft viele Fragen auf, auf die es keine allgemeingültige Antwort geben kann, weil Vergangenheitsbewältigung etwas zutiefst persönliches ist.
Das Buch ist aber auch ein Beweis dafür, dass sich keine Nation von Kriegsverbrechen freisprechen kann. Dass es seelische Wunden gibt, die nur schwer verheilen. Paul gehört einer Generation an, in der über Gefühle nicht gesprochen wurde. Nicht wissend, dass dieses Schweigen der nachfolgenden Generation vererbt wird. Wie und in welchem Maße, darüber ist sich die Epigenetik noch nicht einig.
Bendas bewegendes literarisches Debüt hat mich zutiefst berührt. Vielleicht hätte der Stil an der einen oder anderen Stelle noch etwas Feinschliff vertragen, was aber der Gesamtheit keinen Abbruch getan hat. Wer Kind oder Enkel von Aussiedlern ist und sich diesen großen Gefühlen stellen kann, sollte das Buch unbedingt lesen. Aber auch alle anderen, denen eine historische Auseinandersetzung mit Tiefgang wichtig ist, werden sicher in diesem Buch fündig. Wer noch mehr über den Brünner Todesmarsch wissen möchte, kann sich im Netz schlaumachen, es lohnt sich.
Ein Buch, das immer einen Platz in meinem Herzen haben wird.
Klappentext
Was ist es, das die Geschwister Maria und Uli so umtreibt? Woher stammen ihre Blockaden, wenn es um wichtige Lebensentscheidungen geht? Haben sie etwas mit dem Schweigen ihres Vaters zu tun, der mit 12 Jahren aus seinem glücklichen Leben in Brünn gerissen wurde? Und dem es nie möglich war, über seine Erlebnisse aus dem Mai 1945 zu sprechen, als seine Familie gemeinsam mit 27.000 weiteren deutschstämmigen Bewohnern aus der Stadt vertrieben wurde? Immer deutlicher erkennen Maria und Uli, dass die traumatischen Zustände ihres Vaters in ihnen fortleben, auch sie sind Vertriebene. Und ihnen wird klar, dass sie ihre eigenen Wege gehen müssen, um das Schweigen zu durchbrechen.
Als sie sich zu einer Reise entschließen, wird schnell deutlich: Es wird eine Reise zu den Wurzeln ihrer Familie …
In ihrem beeindruckenden Debüt begibt sich Susanne Benda auf die Spuren der Kriegsvergangenheit in ihrer eigenen Familie.
Bibliografische Angaben
ISBN: 978-3-8251-5331-1
Verlag: Verlag Urachhaus
Erscheinungsjahr: 2022
Seiten: 255, Hardcover
Über die Autorin
Susanne Benda geboren 1963 in Hannover, studierte Germanistik, Musik- und Theaterwissenschaften in Würzburg und München. Anschließend war sie freiberuflich für verschiedene Tageszeitungen, den Rundfunk und Fachzeitschriften tätig, ehe sie 2002 Kulturredakteurin der »Stuttgarter Nachrichten«, später auch der »Stuttgarter Zeitung« wurde. Darüber hinaus ist sie Mitglied in zahlreichen Fachjurys für klassische Musik. Wenn sie ausnahmsweise weder liest, noch schreibt, ist sie ausgiebig auf ihrem Fahrrad unterwegs. Susanne Benda lebt in Stuttgart.
Ein Bruchteil meiner Vergangenheit
Als ich das Buch zum ersten Mal gesehen habe, wusste ich, dass ich es lesen muss. Dieser Moment, in dem ich spürte, dass es auch mit meiner Vergangenheit zusammenhängt, die ihre dunklen Flecken hat, über die in meiner Familie geschwiegen wurde. Meine Oma musste mit meinem Vater ebenfalls 1945 das Sudetenland verlassen, als Deutsche waren sie unerwünscht, wurden bespuckt und wie Vieh in einen Wagon verladen. Ausgesiedelt, wie man sagt, doch das ist nur ein harmloses Wort, das den Schrecken nicht andeutungsweise gerecht wird. Ich bin mit Teilen, die meine Oma mir erzählte, aufgewachsen. Der Schmuck, das Tafelsilber, das sie im Garten i letzter Minute verscharrt hatte, war für mich als Kind nur ein Schatz, für sie die Vergangenheit, die sie begraben hat, in der Hoffnung, eines Tages zurückkehren zu können. Mit nichts, als den Kleidern am Leib, dem dreijährigen Jungen im Kinderwagen wurden sie mit dem Zug nach Deutschland gebracht.
Ich habe das meiste als Kind nicht verstanden, dennoch habe ich die Trauer in ihrem Gesicht gesehen, den Schmerz, den Verlust. Über alles andere hat sie geschwiegen und ich habe versäumt, die Fragen zu stellen. Doch ich war nur ein Kind, für mich waren es Geschichten, die mich betroffen machten. Später, als junge Erwachsene hatte ich andere Dinge im Kopf. Was spielt die Vergangenheit für eine Rolle, wenn doch die Zukunft vor einem liegt?
Mein Vater war zu jung, um irgendwelche Erinnerungen an die Zeit zu haben. Ich glaube, er hat lange Zeit lieber einen großen Bogen darum gemacht. Erst viel später hat er versucht, einen Familienstammbaum zu erstellen. Er hatte Glück, viele Verwandte hatte entweder Erinnerungen oder Aufzeichnungen über die Familie. Mütterlicherseits konnte er die Wurzeln bis an den Anfang des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen – allesamt Deutsche, die auf tschechischem Gebiet lebten.
In den 70ern, ich war vielleicht sieben oder acht, besuchten wir die Stiefschwester einer Oma in Karlsbad. Im Gegensatz zu meiner Oma, die eine deutsche Mutter hatte, war sie Tschechin und durfte natürlich im Land bleiben. Sie war keine besonders freundliche Frau, und selbst ich spürte, dass wir nicht willkommen waren. Ihren Bruder hat meine Oma nie wiedergesehen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Doch mein eigenes Erleben reicht bis 1989 zurück. Der Sommer, als viele Ostdeutsche geflüchtet sind. In der Hoffnung, dass Tschechen ihnen behilflich sind auf dem Weg Richtung Ungarn, haben sie sie angesprochen. Hunderte wurden von ihnen zum nächsten Polizeirevier geführt und für ein paar läppische Kronen verraten. Wie viel Hass und Wut steckte damals noch in dieser Nation?
Heute leben weder meine Oma noch mein Vater mehr. Erst spät habe ich gespürt, dass mir Antworten zu meiner Vergangenheit fehlen. Immer auf der Suche nach etwas, das ich nicht fassen konnte, nie angekommen in meinem Leben, nie das Gefühl von Heimat gehabt.
Geben wir also Erlebtes genetisch weiter, eine sogenannte epigenetische Signatur? Diese Frage stellt sich die Epigenetik. Zurzeit können diese Merkmale bis zur dritten Generation nachverfolgt werden, auch wenn man noch nicht weiß, wie das Ganze vererbt wird. Aber vielleicht ist es ein Ansatz zur Erklärung, warum wir so sind, wie wir sind.
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