KOLLER – Annika Büsing

Lust auf einen Roadtrip der besonderen Art? Dann bitte einsteigen. Aber Achtung, die Beifahrertür des alten klapprigen Polos hängt lose in den Angeln. Die Fahrt wird alles andere als bequem.

»Koller ist eins dieser erstaunlichen Wesen, die erkennen, dass das Glück auf der Straße liegt oder im Park herumläuft.« S.137

Und dort liest er auch Chris auf, die beiden verlieben sich Hals über Kopf und beschließen, gemeinsam ans Meer zu fahren.
Schon auf den ersten Seiten erwischte mich eine kleine Fehlzündung, denn mein Hirn war davon aufgegangen, dass sich hier eine Liebesgeschichte zwischen Mann und Frau anbahnt. Also kurz die Spur korrigiert und weiter ging’s.
Gegensätzlicher könnten die Protagonisten gar nicht sein. Chris, eher scheu, hängt sehr in seinen Gedanken fest, durchdenkt, ja zerdenkt zu viel, während Koller der Impulsive, Spontane ist, der sich von seiner Stimmung leiten lässt.
Büsing nimmt uns mit von Leipzig über Ludwigsburg, wo wir Kollers Schwester kennenlernen. Weiter ins Ahrtal, wo die Menschen noch mit den Folgen der Flutkatastrophe kämpfen und Koller seine 4-jährige Tochter trifft, von der er bisher nichts wusste. Bis wir endlich am Meer ankommen, in Klütz, wo Kollers hippe Oma zu Lebzeiten einen Koikarpfenteich hatte.
Beide sind wie Feuer und Wasser, sie geraten aneinander, stoßen sich ab, ziehen sich aber immer wieder an. Außenseiterfiguren, ein bisschen kaputt, mit Schrammen in der Karosserie, deren Inneres nicht immer aufgeräumt ist, aber doch liebenswert. Während Chris scheinbar gern untertourig unterwegs ist, gib Koller Gas, biegt im letzten Moment ab und verleiht der Geschichte eine besondere Dynamik. Die sich anbahnende Beziehung der beiden ist an manchen Stellen der Geschichte so klapprig wie der alte Polo – sie streiten, sie schmollen, sie laufen weg und sich doch hinterher.

Und so ist es kein Wunder, dass der eigentlich 4-stündige Trip zum Meer eine Sieben-Tage-Reise wird. Allein Kollers Name ist Programm, immer wieder entladen sich seine Emotionen in Wut, Empörung. Der Sound ist mal schnodderig mal einfühlsam, aber immer authentisch und lebensnah wie ihre Protagonisten, die ständig schwanken zwischen Verliebtsein und Zweifeln. Rasant und doch mit Leichtigkeit erzählt, schwingt eine zarte Melancholie durch die kurze Geschichte, in der sich Büsing nicht mit Nebensächlichkeiten aufhält. Sie platziert viele kluge Sätze zwischen der oft herben Dialogsprache, die man sich am liebsten alle anstreichen würde.

»Träume sind Kaugummiblasen. Sie zerplatzen von selbst. Sie haben kein Gewicht in der Welt. Es sind die Träume, die essen müssen, um ihren Platz in der Welt zu behaupten. Nur mit was sollen wir sie füttern?« S.63

Das alles macht dieses Buch zu einem warmherzigen, kurzweiligen Vergnügen, das auf Umwegen die Tiefe von Angst und Verletzlichkeit, Freiheit und Selbstbestimmung, Liebe und Familie auslotet, zwischen Pfirsichkaugummi, Kois und einer Nudelmaschine und einen gehörig durchrüttelt.

»So ist das Leben: Man schwimmt eine Runde durch den Teich und guckt, was so geht

Klappentext

Koller ist nicht nur ein Name, sondern auch ein Zustand. Und der wird fast zum Dauerzustand, als Chris und Koller aufeinanderprallen: Koller will immer mit dem Kopf durch die Wand und denkt sowieso, alles sei ganz einfach. Chris denkt zu viel nach und spricht zu wenig aus. Chris weiß noch nicht einmal, wie Koller mit richtigem Namen heißt, das sitzen sie schon nebeneinander in einem klapprigen Polo II und fahren los. Was ein Kurztrip an die Ostsee werden soll, wächst sich zu einem Roadtrip aus, der sich gewaschen hat.

Eine rasante Geschichte über Liebe und Selbstbestimmung, die Suche nach Freiheit und die Macht von Begegnungen.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-96999-196-1
Verlag: Steidl Verlag
Erscheinungsjahr: Februar 2023
Seiten: 174, Hardcover

Über die Autorin

Annika Büsing, geboren 1981, lebt in Bochum, wo sie an einem Gymnasium unterrichtet. Sie hat evangelische Theologie und Germanistik in Dortmund studiert und einige Zeit auf Island und in Hamburg verbracht. Für ihren ersten Roman Nordstadt (2022) wurde sie mit dem Mara-Cassens-Preis, dem Deutschen Jugendliteraturpreis sowie dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet. Nominiert war sie für den Debütpreis des Harbour Front Literaturfestivals, den Bloggerpreis Das Debüt sowie den Bayerischen Buchpreis. 2023 erschien bereits ihr zweiter Roman Koller.

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Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger

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