Werbung, ich bedanke mich bei Kiwi Verlag für das Rezensionsexemplar.
„Im Augenblick meiner Geburt war ich zwölf Jahre, fünf Monate und einhundertvierundsechzig Stunden alt. Wir werden nämlich nicht an dem Tag geboren, an dem wir das Licht der Welt erblicken, … sondern viel früher. Wir werden geboren, wenn der Gedanke an uns sich in den Geist bislang freier Männer und Frauen geschlichen hat, wenn der Name eines noch nicht existenten Wesens am verschwommenen Horizont eines möglichen Lebens auftaucht. Wir sind eher aus Gedanken denn aus Fleisch gemacht.“ S.7
Manchmal stößt man auf ein Buch, hinter dessen unscheinbarem Cover eine ganz große Geschichte wartet, die einen tief in der Seele berührt, vor allem wenn man eine Bücherseele hat.
Malinverno ist Bibliothekar in Timpamara, eine kleine Stadt, in der Bücherseiten durch die Luft fliegen, die von den Bewohnern liebevoll aufgesammelt und gelesen werden, damit sie nicht in der Presse der Papierfabrik landen. Hier haben Menschen Namen von literarischen Helden und man spricht statt Dialekt Hochitalienisch.
»Über all in Timpamara, auf Fensterbrettern und Bänken, auf Kofferräumen und Müllsäcken, ja sogar auf den Hüten der Damen, konnte eine Seite aus einem Roman landen. Wenn sie jemand aufhob, sie las, und wenn sie ihm nicht gefiel, warf er sie nicht weg, sondern legte sie irgendwo ab, im Blumenkasten auf dem Bürgersteig oder, mit einem Stein beschwert, auf einer Stufe, damit jemand anderes sie aufhob…« S.12f
Doch Malinvernos geruhsames und geordnetes Leben ist vorbei, als er zusätzlich zum Friedhofswärter berufen wird. Nur unwillig macht er sich an seine neue Arbeit, bis er eines Tages ein namenloses Grab entdeckt. Das Porträt darauf erinnert ihn an Madame Bovary. Flauberts Roman hat ihm über viele schwierige Zeiten hinweggeholfen und daher nennt er sie liebevoll Emma. Aus seiner anfänglichen Verliebtheit wird schnell eine Obsession. Um so überraschter ist er, als ihm eine Frau (Ofelia) begegnet, die Emma zum Verwechseln ähnlich sieht. Kann es sein, dass er am traurigsten und dunkelsten Ort die Liebe seines Lebens gefunden hat?
Was für eine bezaubernde Geschichte voller seltsamer, liebevoller Figuren. Denn Malinverno wird einigen Menschen begegnen, die sein Leben verändern und die Grenzen zwischen Realität und Literatur verschwimmen lassen. Da ist Elea, der Auferstandene; Margherita, die ihre verlorene Liebe heiraten möchte; Isaia Caramante, der die Klänge und Stimmen aus einer anderen Welt aufnimmt. Auch Ofelia ist eine zwischen Realität und Fantasie schwebende Figur, bei der sich der Leser immer fragen wird, ob sie existiert oder nur ein Produkt von Malinvernos Fantasie ist. Sie alle werde ich nicht vergessen, aber Astolfo Malinverno habe ich in mein Herz geschlossen.
Doch uns erwartet keine Liebesgeschichte, denn Trauer und Tod sind ein zentrales Thema in Daras drittem Roman. Und Dara spielt mit Metaphern und Reflexionen darüber und mit der alles verbindenden Brücke, der Liebe. War Malinverno bisher nur stiller Zuschauer, wird er nun selbst zur Brücke, zum Mittler zwischen dem, was ist und dem, was war – ein Hüter der Seelen. Er pendelt zwischen Bibliothek und Friedhof, zwei metaphysischen Orten, die Geschichten und Erinnerungen bewahren. Über all seinen skurrilen Begegnungen liegt ein Hauch magischer Realismus, dessen märchenhafte Atmosphäre mich berührt hat.
Das Buch ist ebenso tiefgründig wie farbenfroh, traurig und heiter. Keins, das man schnell wegliest, nicht nur wegen Daras literarischen Erzählstils, denn es lädt zum Nachdenken ein über das Sein, das Danach, den Sinn des Lebens und was uns wirklich ausmacht.
»Wir sind das, was wir gedacht, uns vorgestellt, erhofft, gewünscht und vergessen haben. Das Universum wird niemals wissen, wie unsere stille, geheime Existenz tatsächlich verlaufen ist, niemand wird je von unseren geheimen Reisen, unseren Liebesfantasien, von den Hunderten Leben erfahren, die in den unendlichen Universen eines Neurons enthalten sind.« S. 314
Es ist auch eine Hommage an die Weltliteratur, von Madame Bovary bis Don Quijote. Wer Sinn dafür hat, wird an jeder Stelle Andeutungen und Symbole finden, stimmig und spielerisch eingesetzt, dass es eine Freude ist. So erinnert Malinvernos Vorname an den Ritter, der zum Mond flog, um verlorene Dinge wieder zur Erde zu bringen. Und wer wie ich auch noch neugierig ist, wird über Daras Liebe zu seiner Heimat stolpern. Denn die Nachnamen der Figuren sind kleine, fast vergessene Orte Kalabriens.
Ich kann nur sagen, wenn ihr Literatur und tiefgründige Charaktere liebt, lasst euch von der Geschichte umarmen, von dem leichten, aber intelligenten Erzählstil Daras verzaubern. Es ist jetzt schon mein Monatshighlight.
»… ich dachte, dass im Gunde alles, was wir im Leben bekommen, nur eine Leihgabe ist, die wir früher oder später zurückgeben müssen, so als wäre das Universum eine große Bibliothek, in der Einsamkeit, Freude und Bedauern verliehen … werden in dem Wissen, dass all unsere Gegenstände, unsere Empfindungen und Atemzüge eines Tages auf einen anderen übergehen werden.« S.44
Klappentext
Es gibt Orte, an denen der Geist der Literatur in der Atemluft liegt. So ein Ort ist Timpamara, und hier lebt Astolfo Malinverno. Bücher und Geschichten bestimmen sein ganzes Leben, und als er seiner großen Liebe begegnet, scheinen die Grenzen zwischen Literatur und Realität auf wundersame Weise zu verschwimmen.
In Timpamara, einem fiktiven Dorf in Italien, leben die Menschen schon lange von und mit der Literatur, denn hier entstand im 19. Jahrhundert die erste Papierfabrik Kalabriens. So benennt man Kinder nach literarischen Figuren oder Schriftstellern und spricht Hochitalienisch statt Dialekt. Als Astolfo Malinverno, der Bibliothekar des Ortes, auch noch zum Friedhofswärter berufen wird, gerät sein bisher geruhsames Leben aus den Fugen. Er verliebt sich in das Foto einer wunderschönen Frau auf einem Grabstein, die ihn an Emma Bovary erinnert. Eifersüchtig wacht er über das Grab der schönen Unbekannten, spricht mit ihr, als wäre sie noch am Leben. Doch dann begegnet er im wirklichen Leben Ofelia, dem getreuen Abbild seiner Angebeteten. Gleichzeitig taucht ein Tontechniker auf, der die Stimmen von Verstorbenen aufnimmt, und Malinverno beginnt, den geheimnisvollen Vorgängen auf den Grund zu gehen.
In leichtem, aber sehr intelligentem Plauderton behandelt Dara in seinem neuen Roman grundlegende Fragen von Leben, Liebe und Tod, eingebettet in eine Vielzahl skurriler und origineller Szenen, die das Ganze zu einem großen Lesevergnügen machen.
Bibliografische Angaben
ISBN: 978-3-462-00581-3
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Erscheinungsjahr: 6. Juli 2023
Übersetzung: Anja Mehrmann
Seiten: 416, Paperback
Über den Autor
Domenico Dara, geboren 1971 in Catanzaro, Kalabrien, aufgewachsen in Girifalco. Sein Debütroman »Der Postbote von Girifalco oder Eine kurze Geschichte über den Zufall« und »Der Zirkus von Girifalco« sind in Italien von Lesern und Kritik gleichermaßen begeistert aufgenommen worden. Domenico Dara war damit nominiert für den renommierten Italo-Calvino-Preis und hat zahlreiche weitere Preise gewonnen, u. a. den Premio Palmi, Premio Viadana und die Debütpreise des Premio Corrado Alvaro und des Premio Città di Como.
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