DIE AOSAWA-MORDE Riku Onda

Werbung, vielen Dank an den Atrium Verlag und Politycki & Partner für das Rezensionsexemplar.

In den siebziger Jahren ereignet sich in einer japanischen Kleinstadt ein rätselhafter Massenmord. Bei einer Geburtstagsfeier im Haus einer angesehenen Ärztefamilie sterben 17 Menschen durch vergiftete Sake. Einzige Überlebende ist die 12-jährige, blinde Tochter Hisako. Das Verbrechen wird nie ganz aufgeklärt, auch wenn der Getränkelieferant kurz darauf seine Beteiligung gesteht, Selbstmord begeht und postum verurteilt wird. Was bleibt, ist ein vages Gefühl, dass Hisako etwas mit den grausamen Morden zu tun hat, doch Beweise gibt es keine.
Viele Jahre später schreibt Makiko Saiga, die damals als Kind Zeugin dieser Tragödie war, einen Tatsachenroman darüber, in dem sie Zeugen zu Wort kommen lässt.
Jetzt, wiederum viele Jahre später, scheint sich erneut jemand für die Personen zu interessieren, die damals eine Verbindung zu dem Verbrechen hatten.

»Ich hoffe, Sie verstehen, dass Wahrheit nichts anderes ist als die Sichtweise auf einen Gegenstand aus einer bestimmten Perspektive.« S.64

Genau das erwartet uns in Ondas Kriminalroman, der nur entfernt an einen Whodunit-Krimi erinnert, auch wenn die einzig verbleibende Person im Geschehen die perfekte Verdächtige ist. Doch welches Motiv sollte das blinde Mädchen haben? Formal ist der Krimi aus verschiedenen Blickwinkeln aufgebaut – transkribierten Interviews, in denen die Gesprächspartner lange rätselhaft bleiben und sich erst mit der Zeit erschließen. Was wir lesen, sind aber nur die Antworten und nicht die Fragen, hier mischt sich auch kein außenstehender Erzähler ein.
Das, was wir über die Figuren erfahren, beschränkt sich auf das, was sie uns selbst mitteilen. Auch das ist Onda hervorragend gelungen, ihnen eine eindeutige Stimme zu geben. Wenn sie aber jemand über die Familie Aosawa äußert, so mit viel Diskretion, die ich als typisch japanisch bezeichnen würde.

Ich hatte schnell den Verdacht, dass sich Hinweise im Text verstecken, auch war klar, dass die Perspektiven auf den Fall verschiedene Wahrheiten zeigten. Onda spielt also gekonnt mit der Wahrheit und scheint sich wie ein Puzzle mit der Zeit zusammenzufügen. Aber liefert sie wirklich für jedes Rätsel eine Lösung?
Neben den Perspektiven auf verschiedenen Zeitebenen arbeitet Onda auch mit verschiedenen Textstilen, indem sie Zeitungsmeldungen und Polizeiprotokolle einfügt, manche Kapitel bestehen nur aus Dialogen. Das alles fühlt sich experimentell aber auch sehr gelungen an.
Was mir als Nichtkenner der japanischen Literatur zum Teil verborgen blieb, ich aber trotzdem wahrgenommen habe, sind die bildlichen Metaphern. Ob es nur das eigenwillige, schiffsähnliche Haus mit den Bullaugen war, das Wetter, die Angewohnheit des Kommissars, Kraniche zu falten oder die weiße Kräuselmyrte, die sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht. Aber ich denke nicht, dass es Einfluss auf die Auflösung hatte.

Ich fand Ondas Krimi äußerst innovativ und überzeugend. Auch wenn er eher zurückhaltend und ruhig ist, entsteht eine subtile Spannung, die mich das Buch innerhalb kürzester Zeit durchlesen ließ. Ich kenne nichts Vergleichbares und bin fasziniert, dass man Krimis auch völlig anders erzählen kann.
Ich empfehle es denen, die offen sind für Außergewöhnliches und keinen herkömmlichen Krimi lesen möchten, Wert auf sprachlich hervorragende Texte, Tiefe und Symbolik legen und sich ein wenig für japanische Gesellschaft und Kultur interessieren.

Anfang des Jahres hat sie mich bereits mit »Fische, die in Sonnensprenkeln schwimmen« begeistert und ich hoffe, noch viel von ihr lesen zu dürfen.

Das Glossar am Ende des Buches gibt Hilfestellung beim Verständnis einzelner Begriffe. Ich habe es aber nicht gebraucht, da die Übersetzerin Nora Bartels hier perfekte Arbeit geleistet hat.

Klappentext

An einem stürmischen Sommertag veranstaltet die Familie Aosawa ein rauschendes Fest. Doch die Feier verwandelt sich in eine Tragödie, als siebzehn Menschen durch Zyanid in ihren Getränken sterben. Die einzige Unversehrte ist Hisako, die blinde Tochter des Hauses. Kurz darauf begeht der Mann, der die Getränke lieferte, Selbstmord und besiegelt damit scheinbar seine Schuld, während seine Motive im Dunkeln bleiben. Jahre später versuchen die Autorin eines Buches über das Verbrechen und ein Ermittler, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Doch die Wahrheit ist immer nur das, was wir aus unserer Perspektive sehen …

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-85535-127-5
Verlag: Atrium Verlag
Erscheinungsjahr: 16. März 2022
Übersetzung: Nora Bartels
Seiten: 400, Hardcover

Über die Autorin

Riku Onda, geboren 1964 in der Präfektur Miyagi, veröffentlichte 1992 ihr Debüt ›Das sechste Kind‹. Sie wurde mit dem ›Yoshikawa Eji Prize‹ und dem ›Yamamoto Shugoro Prize‹ ausgezeichnet, 2017 erhielt sie den ›Naoki Prize‹ für ›Honigbiene und ferner Donner‹ sowie den japanischen Buchhandelspreis. Ihr Werk wurde für Film und Fernsehen adaptiert.

Weitere Werke

Fische, die in Sonnensprenkeln schwimmen, Atrium 2023

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Über ein.lesewesen 273 Artikel
Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger

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