MARTHA UND DIE IHREN – Lukas Hartmann

Werbung, danke an Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

In diesem autofiktionalen Buch hat Hartmann (Jahrgang 1944) seiner Familiengeschichte über drei Generationen nachgespürt. Er beginnt mit Martha, seiner Großmutter, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts in prekärer Armut aufwächst. Eine von der Nachbarin vor die Haustür gestellte Schüssel Haferbrei wird für die Kinder zum Festessen. Auch wenn Martha, abgezählt nach Altersjahren, nur sieben gestrichene Löffel voll davon bekommt. Nach dem frühen Tod des Vaters weiß die Mutter nicht mehr, wie sie die sechs Kinder satt bekommen soll. Und so kommt Martha, wie auch ihre Geschwister, als Verdingkind zu einer anderen Familie.

»Die Kinder werden verdingt, auch das ist ein neues Wort für Martha. Später wird sie denken, dass das Wort ja stimmt, sie sind zu Dingen geworden.« S.17

Dort ist sie als zusätzliche Arbeitskraft willkommen, aber nicht als zusätzlicher Esser. Die Schüssel mit den Kartoffeln ist oft schon leer, wenn sie bei ihr am Ende des Tischs ankommt. Doch Martha ist tapfer, kann zupacken und ist intelligent. Sie schafft es, eine Stelle in einer Strickerei in Bern zu ergattern und damit einen Weg aus der Armut zu finden. Doch das Erlebte hat längst einen Weg tief in ihr Inneres gefunden, und sich dort festgesetzt. Und es wird nicht nur ihr Leben beeinflussen, sondern auch das ihrer Söhne.
Toni, der Älteste, kennt kein anderes Ziel, als den Makel, Sohn eines Verdingkinds zu sein, durch eigene Anstrengungen auszulöschen. Wenn er von der Mutter etwas gelernt hat, dann das hart verdiente Geld zu sparen und mit Zuneigung zu geizen.
Erst Tonis ältester Sohn Bastian, der sich nach Aufmerksamkeit und Liebe sehnt, geht dem Gefühlsdefizit seiner Familie auf den Grund, rebelliert und versucht die Auswirkungen seiner Familiengeschichte zu verstehen.

Basis des Romans sind Hartmanns Gespräche mit seiner Großmutter, als sie schon alt ist, sich ein Leben lang verschlossen hat und nur bruchstückhaft über ihr Leben spricht. Diese Leerstellen füllt er mit einer hochemotionalen Geschichte, die so oder so ähnlich viele Familien ereilt hat. Armut war in der Schweiz nicht nur ein Makel, sondern ein Fehlverhalten und eine Gefahr für das Gemeinwohl, weshalb die Behörden bis in die 70er Jahre den Eltern die Kinder entzogen, sie auf Bauernhöfe schickte, in Armenhäuser und Heime. Und man kann Marthas ganzen Stolz, es aus diesem Milieu herausgeschafft zu haben, nachvollziehen.

»Sie ist für mich die prägende Figur der Familie geworden«, sagt der Autor im Nachwort und als Leser*in versteht man es im Laufe der Geschichte, wie sehr dieser Makel zur Triebkraft von Marthas Kindern wurde, quasi als Trauma vererbt wurde.

Obwohl es nur wenige Schnittstellen mit meiner eigenen Familiengeschichte hat, kamen mir doch vieles bekannt vor. Eine Generation, die schweigt, die sich Emotionen versagt. Bloß keine Schwäche zeigen, keine Nähe zulassen. Die sich auf der Karriereleiter nach oben abmüht, ständig mit der Angst im Nacken, zu versagen und trotzdem das Gleiche von den Kindern einfordert. Doch die Kinder träumen von einem freieren Leben und sehnen sich nach Liebe um ihrer selbst willen.

Die Essenz des Romans ist für mich, wenn wir das Leben der Vorgeneration verstehen, können wir begreifen, warum sie sind, wie sie sind – warum wir sind, wie wir sind. Und warum wir heute noch an diesem seelischen Erbe zu knabbern haben. Dass aufeinander zugehen, miteinander reden und verzeihen wichtige Schritte sind, um sich von den transgenerationalen Traumata zu befreien.

Klappentext

Martha ist eine beeindruckende Frau, die es aus ärmsten Verhältnissen zu bescheidenem Wohlstand gebracht hat. Aber die Erinnerung an die Entbehrungen ihrer Kindheit als »Verdingkind« bei einer Bauernfamilie im Berner Umland lässt sie nie los: Keine Schwäche zeigen. Arbeiten ohne Unterlass. Hart sein zu sich und anderen. Das prägt auch ihre Söhne, die es in der Nachkriegszeit unbedingt zu etwas bringen wollen. Und ihre Enkel, die dagegen rebellieren und es erstmals wagen, sich ein anderes, ein freieres Leben zu erträumen.

Ein Dorf in der Nähe von Bern, Anfang des 20. Jahrhunderts. Nach dem Tod von Marthas Vater kann die Mutter die sechs Kinder nicht mehr ernähren. Sie werden als sogenannte Verdingkinder auf verschiedene Bauernfamilien verteilt, müssen schuften und bekommen, wenn sie Glück haben, genug zu essen. Martha, die Zweitjüngste, ist aufgeweckt und fleißig. Sie macht ihren Weg als Fabrikarbeiterin in einer Spinnerei, später als Gattin eines Schusters. Als er früh stirbt, droht sich ihr Schicksal als Witwe mit zwei Kindern zu wiederholen. Doch Martha überrascht alle, nicht zuletzt ihre beiden Söhne. Ein Roman über eine Kämpferin, eine Frau, die sich aus bitterer Armut emporgearbeitet hat – und über den Preis, den sie, ihre Söhne und noch ihre Enkel dafür zahlen.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-257-07273-0
Verlag: Diogenes Verlag
Erscheinungsjahr: 24. April 2024
Seiten: 304, Hardcover

Über den Autor

Lukas Hartmann, geboren 1944 in Bern, studierte Germanistik und Psychologie. Er war Lehrer, Journalist und Medienberater. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Bern und schreibt Bücher für Erwachsene und für Kinder. Er ist einer der bekanntesten Autoren der Schweiz und steht mit seinen Romanen regelmäßig auf der Bestsellerliste.

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Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger

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