SEKUNDEN DER GNADE – Dennis Lehane

Werbung, danke an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

1971 stellt ein Gericht fest, dass die an öffentlichen Schulen noch immer geltende Rassentrennung verfassungswidrig ist. Letzteres bedeutet, dass ab Herbst 1974 städtische Busse Schwarze Kinder zu Schulen transportieren, die bisher durchgehend „weiß“ waren und umgekehrt. Und das führt in Boston zu gewalttätigen Ausschreitungen gegenüber Afroamerikanern.

Mitten in diese Unruhen gerät der Autor Dennis Lehan als Neunjähriger und erzählt uns nun eine Geschichte, die echt unter die Haut geht.

Im irischen Stadtteil »Southie« werden Protestkundgebungen gegen den Gerichtsbeschluss geplant, denen sich auch Mary Pat anschließen will, denn sie hat ihre Gründe, warum alles so bleiben soll, wie es ist.
Mary Pat sie Hilfspflegerin und bringt sich und ihre 17-jährige Tochter Jules gerade so durch. Ihr erster Mann ist tot, ihr zweiter hat sie verlassen und ihr Sohn, ein Vietnamheimkehrer, ist an einer Überdosis Heroin gestorben. Jules war das Einzige, was ihr noch geblieben ist. Doch eines Nachts ist Jules mit ihren Freunden unterwegs und kommt nicht wieder nach Hause.
Es ist die gleiche Nacht, in der ein junger Schwarzer Mann in der U-Bahnstation bei einem Überfall zu Tode kommt, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war. Und nicht nur Mary Pat ahnt, dass Jules und ihre Freunde darin verwickelt sind.
Mary Pat macht sich mit all ihrem Schmerz auf die Suche nach ihrer Tochter und der Wahrheit. Doch sie rennt vor eine Mauer des Schweigens, was sie rasend vor Wut werden lässt.
Sie scheut auch nicht davor zurück, sich mit der mafiösen Butler-Crew anzulegen, die die wahre Macht in Southie haben. Doch was sie findet, ist auch ihre eigene Schuld, die sie bereit ist zu begleichen.

Lehan ist hier ein literarischer Krimi mit soziologischem Tiefgang gelungen, der detailliert, brutal, blutig und absolut stimmig die Spannungen und Persepektivlosigkeit damals in Boston zeigt.
Mary Pat ist keine sympathische Heldin, die aber mit der Zeit sehr viel Mitgefühl von mir bekam. Aufgewachsen mit Armut, fehlender Bildung und Gewalt kennt sie nichts anderes, als sich mit ihren Fäusten zu verteidigen. Sie weiß, dass die Cops auf der Gehaltsliste von Marty Butler stehen, also lässt ihr gesamtes Umfeld ihr gar keine andere Wahl, als als Selbstjustiz zu üben.
Ihr Gegenpart ist der Polizist Bobby Coyne, ein Vietnamveteran, der seine Drogensucht überwunden hat und Mary Pat aufhalten will. Er verurteilt ihre Vorgehensweise, sieht aber auch, dass das Justizsystem wenig mit Gerechtigkeit zu tun hat.

Lehane zeigt plausibel, wie rassistische Vorurteile entstehen, wie sie von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden und allgegenwärtig sind. Wer sich schwertut, rassistische Beleidigungen zu lesen, sollte die Finger von dem Buch lassen, denn Lehane ist gnadenlos authentisch in seiner Figurensprache.

Es war mein erstes Buch von Lehane, obwohl er mir durch seine Verfilmungen wie »Shutter Island« oder »Mystic River« bekannt ist. Und ich muss zugeben, dass ich mich am Anfang etwas schwertat mit den vielen Namen. Aber als ich drin war, hat mich die Geschichte nicht mehr losgelassen.
Lehane zwingt uns hinzusehen, und legt den Finger in die klaffende Wunde seines Landes, die auch 50 Jahre später nicht verheilt ist – und nicht nur in den USA. Er will, dass wir den strukturellen Rassismus verstehen und die damit verbundene Gewalteskalation.
Fazit
Die Story ist tempogeladen, absolut filmreif und von erschütternder Aktualität. Atmosphärisch dicht erzählt, absolut lesenswert, ganz klare Empfehlung von mir.

Klappentext

Boston, 1974. Die Stadt kocht. Künftig sollen schwarze Kinder mit Bussen in weiße Schulen gebracht werden und vice versa. Angst geht um und Hass. Eines Nachts kehrt Mary Pat Fennessys 17-jährige Tochter Jules nicht nach Hause zurück. Mary Pat beginnt Fragen zu stellen, stößt auf Schweigen und Widersprüche, bis sie versteht: Man hat ihr das Letzte genommen, was ihr in dieser Welt Halt gab. Außer sich vor Schmerz macht sie sich auf, um Rache zu nehmen an den Verantwortlichen – und um ihre eigene Schuld abzutragen. Um jeden Preis.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-257-07258-7
Verlag: Diogenes Verlag
Erscheinungsjahr: 23. August 2023
Übersetzung: Malte Krutzsch
Seiten: 400, Hardcover

Über den Autor

Dennis Lehane, irischer Abstammung, geboren 1965 in Dorchester, Massachusetts, schrieb für ›The Wire‹ und war Creative Consultant für ›Boardwalk Empire‹. Er unterrichtet Creative Writing u.a. in Harvard. Seine erfolgreich verfilmten Bücher ›Mystic River‹ und ›Shutter Island‹ sind Weltbestseller. Dennis Lehane lebt in Kalifornien und Boston.

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Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger

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