WALDECK – Jürgen Heimbach

Werbung, ich bedanke mich beim Unionsverlag für das Rezensionsexemplar.

1964, der Journalist Ferdinand Broich ist bei seiner letzten Story falschen Informationen aufgelaufen und braucht nun dringen einen neuen Job, um seine Reputation wieder herzustellen. Sein Spezialgebiet – das Aufspüren von ehemaligen Kriegsverbrechern, die, meist unter einer falschen Identität, nach wie vor unbehelligt in Amt und Würde sind. Da kommt ihm der Anruf einer Überlebenden des Holocausts gerade recht, die in München einen ehemaligen Zahnarzt aus dem Lager Majdanek wiedererkannt haben will. Doch bei Broichs Eintreffen ist die alte Dame bereits verstorben. Zufall?
Silvia will sich nicht ihrem Vater beugen, der ihr verbietet, Kunst zu studieren, sie stattdessen mit einem wohlhabenden Juristen verheiraten will. Außerdem hat sie herausgefunden, dass ihr Vater ein schreckliches Geheimnis verbirgt. Wenige Tage bevor sie großjährig wird, überschlagen sich die Ereignisse, und sie muss früher fliehen als geplant. Ihr Ziel ist das Waldeck-Festival, wo sie sich mit einem jungen Mann treffen will.
Währenddessen versucht Mine auf einem Dorf im Hunsrück, ihre ungeplante Schwangerschaft vor ihrer Familie zu verheimlichen. Auch sie soll einen Mann heiraten, den sie nicht liebt. Sollte sie sich weigern, bliebe ihr nur eine Zukunft als bessere Magd auf dem elterlichen Hof, unter der Knute ihres strengen Großvaters, eines glühenden Hitleranhängers, bei dem alle in Schweigen versinken, wenn er an der sonntäglichen Kaffeetafel ins Schwadronieren über die guten alten Zeiten vor 45 gerät.

Heimbach erzählt in seinem multiperspektivischen (Kriminal)Roman von einem Generationenkonflikt, der exemplarisch für die 60er Jahre ist. Obwohl die eigentliche Handlung nur acht Tage umfasst, gelingt ihm ein außerordentlich stimmungsvolles Bild, das den Zeitgeist eines Aufbegehrens perfekt widerspiegelt. Eine Jugend, die sich gegen den Mief ihrer Elterngeneration auflehnt, was sich im Besonderen in der Musik niederschlägt.

Heimbach wählt dafür das erste Festival auf der Burgruine Waldeck als Kulisse, aus dem sich eine neue Kultur, die der Liedermacher entwickelte, wie z.B. Hannes Wader oder Katja Ebstein. Die jungen Menschen, die sich dort versammeln und über neue Ideale diskutieren, sind als Gammler und Kommunisten den Vorgenerationen ein Dorn im Auge. Die, die eine neue linke Gefahr und sich in ihren Werten bedroht sehen. Was für eine erschütternde Parallele zur heutigen Zeit!

»Aber ich fürchte, … dass die Ideen der Nazis weiterleben, dass Zeiten kommen werden, in denen vergessen sein wird, was passiert ist, in denen man es wahrscheinlich sogar als lästig ansieht, dass immer wieder aufs Neue an die Gräueltaten der Nazis erinnert wird. Ein Vogelschiss in der Geschichte, werden sie sagen, sei das gewesen.« S.147

Gleichzeitig möchten die Alten über die Kriegsjahre und die damit begangenen Verbrechen den Mantel des Schweigens ausbreiten, nach dem Motto: Jetzt muss aber auch mal gut sein. Und das in dem Wissen, dass nicht wenige der Täter unbehelligt unter ihnen leben. Auch in angesehener Stellung, wie im Roman der Zahnarzt Fischer. Ihm zur Seite stellt Heimbach den pensionierten BND-Mann Winter, einen Mann fürs Grobe, der hinter Fischer aufräumt. Denn durch die 1963 begonnenen Auschwitz-Prozesse in Frankfurt werden manche von ihnen äußerst nervös.

Mit Mine und Silvia zeichnet der Autor zwei sehr authentische Frauenfiguren, die es satthaben, nach den alten Vorstellungen ihrer Väter zu leben, die sich nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung sehnen und voller Zuversicht und Glauben an sich selbst die ersten Schritte in ein freies Leben gehen.

Ein Buch, das mir einiges an Geschichte vermittelt hat, bin ich doch später und auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs aufgewachsen. Die Sehnsucht einer neuen Generation, Gerechtigkeit walten zu lassen, die Vergangenheit aufzuarbeiten und den Opfern Wiedergutmachung zukommen zu lassen.
Denn auch heute redet man nicht gern davon, wie viele Nazis sich in Wirtschaft, Justiz und Politik nie zur Verantwortung gezogen wurden und gesellschaftliches Ansehen genießen konnten.

Klappentext

Silvia will ausbrechen aus der biederen Welt ihres Vaters, in der sie nichts erwartet als die immer gleichen miefigen Tapeten. Als sie in seinen Unterlagen eine erschütternde Entdeckung macht, muss sie endgültig verschwinden. Es zieht sie auf das Waldeck-Festival, wo eine junge Generation mit Gitarren und Folksongs aufbegehrt: gegen den Starrsinn der Alten und die verbohrten Strukturen der Nachkriegszeit.

Währenddessen wittert der in Ungnade gefallene Journalist Ferdinand Broich endlich eine neue Story: Eine Frau will einen ehemaligen SS-Arzt auf der Straße erkannt haben. Doch als Broich die Zeugin wenige Tage später aufsuchen will, ist die bereits tot.

Eine gefährliche Suche nach der Wahrheit beginnt, in einem Deutschland, dessen dunkle Vergangenheit noch bedrohlich nahe ist.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-293-00607-2
Verlag: Unionsverlag
Erscheinungsjahr: 18. März 2024
Seiten: 352, Paperback

Über den Autor

Jürgen Heimbach, geboren 1961 in Koblenz, studierte nach einer kaufmännischen Ausbildung Germanistik und Philosophie, betrieb in Mainz ein Off-Theater und gründete die Künstlergruppe V-I-E-R, mit der er Ausstellungen organisiert. Heute arbeitet Heimbach als Redakteur für 3sat. Sein Werk umfasst Romane, Jugendbücher und kriminalistische Kurzgeschichten. Sein Roman »Die Rote Hand« wurde 2020 mit dem Glauser-Preis für den besten deutschsprachigen Kriminalroman ausgezeichnet. Heimbach lebt mit seiner Familie in Mainz.

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Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger

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