Werbung, da Rezensionsexemplar, danke an Aufbau Verlage
1961 erschien dieser Roman, der von drei Abiturienten erzählt, die vor ihrem Studium ein Jahr im Kombinat »Schwarze Pumpe« arbeiten. So unterschiedlich ihr Background ist, so verschieden sind auch ihre Beweggründe, dieses praktische Jahr zu absolvieren. Recha wuchs in einem Kinderheim auf, nachdem ihre jüdische Mutter von den Nazis hingerichtet wurde, ihren Vater kennt sie kaum. Curt »mit C« kommt aus einer wohlhabenden Familie, sein Vater ist oft abwesend, die Mutter möchte gern zur Oberschicht gehören, Geldsorgen kennt Curt nicht. Nikolaus’ Vater, ein alter Sozialdemokrat, besteht darauf, seinem Sohn all das zu ermöglichen, wozu er selbst keine Chance hatte. Letztlich sollen sich die drei aber ihre Hörner abstoßen, um das harte Arbeitsleben kennenzulernen. Sie begegnen sich am allerersten Tag an der Bushaltestelle, und beide Jungs verlieben in das »Mahagonimädchen« mit den »ägyptischen Augen«. Recha kann sich mit ihren 17 Jahren für keinen entscheiden, Nikolaus ist ihr zu schwerfällig, Curt zu selbstverliebt.
Ihre Bühne ist die „modernsten Brikettbude von ganz Europa“, ein Braunkohlewerk, das in nur vier Jahren aus dem Boden gestampft wurde. Der Arbeitsalltag ist hart, die Männer sind ruppig, derb aber echte Kumpels. Reimann schafft es, eine genaue Stimmung von der Riesenbaustelle zu schaffen. Ich spürte regelrecht den matschigen Boden, hörte die lauten Maschinen, aber spürte auch die Emotionen der Figuren. Die Autorin lässt uns hinter deren Fassade blicken, zeigt uns ihre Lebensumstände, ihren harten Job, ihren Willen, sich auch im Alter noch fortzubilden. Ihr Brigadeführer Hamann schafft es immer wieder, die Truppe zusammenzuhalten, Außenseiter zu integrieren, sie zu Sonderschichten zu motivieren. Keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, dass die DDR-Wirtschaft in den 60ern noch stark vom Westen abhängig war und Materialknappheit an der Tagesordnung war.
Thematisiert hinter der Liebesgeschichte, die typisch für das Alter reichlich verwirrt erscheint, ist aber der Aufbau des Sozialismus. Ich finde, das ist Reimann in allen Facetten gelungen, auch Kritik an vielen Stellen anzubringen, die man heute sicher anders bewertet als damals. Sicher war das Ziel, eine neue, junge Generation heranzuziehen, die sich für die Gemeinschaft einsetzt, ihr eigenes Streben unterordnet zum Wohl aller. Doch gerade an den einzelnen Figuren sieht man, dass die einen für mehr Prämien schuften und die anderen den Sinn der Gemeinschaft längst erkannt haben. Eine großartige Charakterstudie und ein brillantes Zeitzeugnis, das alle begeistern wird, die sich für die DDR-Geschichte interessieren.
Im Gegensatz zu »Die Geschwister«, das ja ein Highlight für mich war, habe ich hier ein paar Kritikpunkte. Reimann experimentiert hier mit der Perspektive, sie springt oft vom personalen zum allwissenden Erzähler, um die Hintergründe der Charaktere für den Leser sichtbar zu machen, was mich aber in keiner Weise gestört hat. Allerdings lässt sie die Figuren reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Das verdeutlicht natürlich die Herkunft und den oft rauen Umgang der Arbeiter untereinander, war aber mit der Zeit sehr ermüdend. Damit bleibt dieses Buch hinter ihren Tagebüchern und »Die Geschwister« etwas zurück.
Klappentext
Vom Idealismus der Jugend – und dem Erwachen
Drei Freunde wollen vor dem Studium für ein Jahr in einem Industriebetrieb arbeiten, in einer für sie fremden, aufregenden Welt. Ein bisschen Trotz ist dabei im Spiel, viel Idealismus und noch mehr Abenteuerlust. Wie schwierig es werden wird, sich zu behaupten, ahnen sie anfangs nicht. Und dann reagiert jeder von ihnen anders auf die neue Situation: Nikolaus handelt zielstrebig, Recha ist begeisterungsfähig und streitbar, Curt entpuppt sich als Zyniker. Als sich beide jungen Männer in Recha verlieben, muss die sich entscheiden.
Der legendäre DDR-Roman, der die »Ankunftsliteratur« begründete.
Bibliografische Angaben
ISBN: 978-3-7466-4041-9
Verlag: Aufbau Verlag
Erscheinungsjahr: 14. Februar 2023
Seiten: 260, Taschenbuch
Über die Autorin
Brigitte Reimann wurde am 21. Juli 1933 als Tochter des Journalisten und Bankkaufmanns Willi Reimann und seiner Frau Elisabeth und als ältestes von vier Geschwistern in Burg (bei Magdeburg) geboren. Mit 14 Jahren erkrankte sie an Kinderlähmung, musste ein halbes Jahr auf einer Isolierstation zubringen und beschloss in dieser Zeit, Schriftstellerin zu werden. Nach dem Abitur 1951 arbeitete sie zunächst als Lehrerin. Sie heiratete 4 Mal, alle Ehen blieben kinderlos. Ende der 60er Jahre erkrankt sie an Krebs und stirbt am 20. Februar 1973 im Alter von 39 Jahren.
Ihr kurzes Leben zeichnet sich durch eine intensive Schaffensphase aus. Mit 22 Jahren veröffentlichte sie ihr erstes Buch, ein Jahr später wurde sie in den Schriftstellerverband aufgenommen. Nach vielen Werken (siehe eine Auswahl unten) schrieb in den letzten Jahren mit großer Vehemenz an ihrem letzten Roman Franziska Linkerhand, der unvollendet bleibt und erst 1974 postum veröffentlicht wurde.
Reimann gehört zu den meistgelesenen Autorinnen der DDR.
Mit der Verschärfung der Zensur 1965 verliert sie ihre Illusionen über ihren Beruf als Schriftstellerin und die sozialistische Ideologie. Sie will sich von Bürokraten nicht vorschreiben lassen, was sie zu schreiben habe. Sie rebelliert, wird unangepasst. Kompromisslos und mutig tritt sie für Meinungsfreiheit ein, auch als Frau für ihre sexuelle Selbstbestimmung, und gilt somit als Vertreterin des Feminismus in der DDR.
Weitere Werke (Auswahl)
Zu Lebzeiten:
• 1961: Ankunft im Alltag (Erzählung)
• 1963: Die Geschwister (Erzählung)
• 1965: Das grüne Licht der Steppen (Tagebuch einer Sibirienreise)
Postum veröffentlicht:
• 1974: Franziska Linkerhand. (Roman, unvollendet)
• 1983: Brigitte Reimann in ihren Tagebüchern und Briefen. Eine Auswahl.
• 1993: Sei gegrüßt und lebe. (Briefwechsel 1964 bis 1973 mit Christa Wolf)
• 1997: Ich bedaure nichts. (Tagebücher 1955 bis 1963)
• 1998: Alles schmeckt nach Abschied. (Tagebücher 1964 bis 1970)
• 1998: Franziska Linkerhand. (Roman, vollständige Ausgabe nach dem überlieferten Typoskript)
• 2003: Das Mädchen auf der Lotosblume. (Zwei unvollendete Romane)
• 2022: Die Denunziantin. Aisthesis, Bielefeld 2022
• 2023: Die Geschwister. Aufbau Verlage Neufassung
Auszeichnungen und Ehrungen (Auszug)
• 1960 2. Preis in der Nationalen Runde des Internationalen Hörspielpreises der Rundfunkanstalten von Tschechoslowakei, Ungarn, Polen und der DDR
• 1961 Kunstpreis des FDGB für Literatur
• 1962 Kunstpreis des FDGB für Ankunft im Alltag
• 1965 Heinrich-Mann-Preis für Die Geschwister
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