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»Die Welt ist tausend Schritte lang«, so beginnt die Geschichte aus dem französischen Dorf Courtillon, in das es den namenlosen Ich-Erzähler, einen deutschen Lehrer, verschlagen hat. In einem von Melancholie durchzogenen Brief beschreibt er seiner verflossenen Liebe, wen sie sehen würde, käme sie je hierher. Doch sie wird nicht kommen und er wird die Briefe nie abschicken. Diese Liebe ist der Grund, warum er die Räder von seinem Auto abgeschraubt hat, denn es gibt kein Zurück. Im Dorf ist er der Fremde, der Deutsche und durch seine Augen lernen wir allmählich die Bewohner kennen. Die Hühnerfrau, die mit niemanden spricht, nur »putt, putt, putt« und »so, so, so« mit ihren Hühnern, oder die alte Dame Milotte, die aus ihrem Rollstuhl das Dorfgeschehen überwacht, oder ein ehemaliger Kämpfer der Résistance, der nachts sein Gewehr abfeuert. Das wird keinen Moment langweilig, denn Lewinsky schildert dies in wundervollen Worten, die ein idyllisches Bild zeichnen. Unterschwellig wird die Geschichte aber angetrieben von der Frage, wieso die Beziehung des Erzählers auseinanderging.
Doch hinter den Fassaden lauern Intrigen und Geheimnisse, von denen der Erzähler nichts weiß, die er sich nach und nach mühsam zusammensetzen muss. Dann wird eine geplante Kiesgrube zum Zankapfel, die lange Verschwiegenes zum Vorschein bringt. Es gibt eine Tote und statt des Johannisfeuers brennt das Haus seines Freundes ab. Hinter all den Ereignissen steckt einiges an Schuld und die reicht bis zu den Partisanenkämpfen zurück. Und auch unser Erzähler ist nicht der tadellose Frühpensionär, wie es zu Beginn den Anschein hatte.
»Wahrheit ist ein philosophischer Begriff, und die Philosophie verhält sich zum wirklichen Leben wie eine schicke Krawatte zu einem schmutzigen Hals.« S.231
Nachdem letztes Jahr so viele von »Sein Sohn« geschwärmt haben und im Oktober Lewinskys neuer Roman »Täuschend echt« erscheint, war es an der Zeit, mich mit dem Autor zu befassen. »Johannistag« hat mich auf meiner 11-stündigen Zugfahrt überrascht, gefesselt und begeistert. Nicht nur seine metaphernreiche Sprache hat mich fasziniert, auch seine kunstvolle Art, Geschichten in Geschichten zu verschachteln, ohne dass es undurchsichtig wird. Ganz wie in einer Kiesgrube wird eine Menge Schlamm aufgewirbelt, Wahrheiten und Verstrickungen kommen ans Licht und die Frage nach der Schuld kann man auf verschiedene Weise betrachten. Die Vergangenheit lässt sich halt doch nicht ewig vertuschen.
Lewinsky ist für mich mal wieder ein Fall von: besser spät einen guten Autor finden als nie.
Klappentext
Ein Lehrer hat sich, nachdem er wegen einer Affäre mit einer Schülerin suspendiert wurde, in ein französisches Dorf zurückgezogen. Idyllisch wirkt es hier, doch der Schein trügt. Ein Bauvorhaben reißt uralte Gräben wieder auf, und ehe der Fremde sich’s versieht, ist er in das Ränkespiel verwickelt. Es entspinnt sich ein Netz aus Verbrechen längst vergangener Tage und höchst lebendigen Intrigen.
Bibliografische Angaben
ISBN: 978-3-257-24592-9
Verlag: Diogenes Verlag
Erscheinungsjahr: 2021
Seiten: 366, Taschenbuch
Über den Autor
Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, ist seit 1980 freier Schriftsteller. International berühmt wurde er mit seinem Roman ›Melnitz‹. Er gewann zahlreiche Preise, darunter den französischen Prix du meilleur livre étranger. ›Der Halbbart‹ war nominiert für den Schweizer und den Deutschen Buchpreis. Sein Werk erscheint in 16 Sprachen. Charles Lewinsky lebt im Sommer in Vereux, Frankreich, und im Winter in Zürich.
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