CHAMÄLEON – Annabel Wahba

Werbung. Herzlichen Dank an Eichborn Verlag für das Rezensionsexemplar.

„In dem Augenblick, wo ein Mensch stirbt, den man liebt, schaut man nicht mehr so sehr nach vorne, sondern man schaut mehr zurück: Woher kommt man eigentlich.“

Sagt die Journalistin Annabel Wahba, die jüngste der 4 Geschwister, die einen ägyptischen Vater und eine deutsche Mutter haben. Der traurige Anlass für den autofiktionalen Roman ist der Tod ihres Bruders André, der einen Tumor hat und im Streben liegt. Dennoch ist das Buch nicht traurig, sondern warmherzig und voller lebendiger Anekdoten.

»Es ist ungefähr tausendundeine Nacht har, dass wir von deiner Krankheit erfahren haben. Scheherazade erzählte um ihr Leben. … Wenn ich nun an deinem Bett sitze, … erzähle ich nicht um mein Leben, sondern gegen deinen Tod.«

Wahba erzählt von der Suche nach ihrer Identität, dem Leben zwischen den Kulturen, das jeder ihrer Geschwister anders erlebt und gelebt hat. André war der Einzige, der in Ägypten geboren wurde, aber nie dorthin zurückgekehrt ist. Annabel kam in Deutschland zur Welt und hat immer nach ihren Wurzeln gesucht. Was ist der ägyptische Teil, und was der deutsche Teil in ihr.
Die Geschichte beginnt mit ihrer Oma in Erding, schildert die Kriegserlebnisse der Familie, die Kindheit ihrer Mutter, die als junge Frau in die USA geht und später ihren Mann Amir in München kennenlernt. Hochschwanger geht sie mit ihm und ihren zwei Kindern in seine Heimat, wo er als Dozent an der Uni in Kairo arbeitet. Wir erfahren dann viel von dem schwierigen Leben in Ägypten und Amirs Familie. Doch der Sechstagekrieg zerstört ihre Pläne. Ende der 1960er kehren sie mit viel Glück nach Deutschland zurück. Annabel Wahba erinnert sich, wie jeder Einzelne zwischen den Kulturen lebte, hier wie dort. Sich nicht fremd fühlen und doch anders sein. Ihr Leben war geprägt von Ablehnung und Vorurteilen, von Kriegen und Ängsten aber vor allem von Warmherzigkeit und Liebe. Vereint hat die Eltern immer ihr Glaube, die hohen Werte der Familie und die Sorge um die Kinder.

Ein wahres Zeitzeugnis, das immer wieder zeigt, wie Menschen anderer Herkunft den Vorurteilen und Repressalien ausgesetzt waren. In Ägypten darf die Familie das Land nicht verlassen, in Deutschland leben sie in ständiger Angst vor der Abschiebung. Politische Auseinandersetzungen verändern ständig ihr Leben. Die Geschwister haben ihre eigenen Wege gefunden, damit umzugehen. Auch Anouk ist nie zurückgekehrt nach Ägypten, was Annabel immer beschäftigt hat.

Anouk: »… es zieht mich einfach nichts dahin.« Und wenn es wirklich so banal ist? Warum sollte man in ein Land reisen, bloß weil der Vater dort zufällig geboren ist, bloß weil man selbst ein paar Jahre verbracht hat? Dieses Beschäftigen mit der Identität, sollte das am Ende völlig überbewertet sein? Mache ich mich zur Gefangenen meiner Herkunft, und Anouk ist wahrhaft frei?«

Ich wurde auf das Buch aufgrund des Covers aufmerksam. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass vor den bayrischen Alpen Palmen sind. Es mag auf den ersten Blick schrill erscheinen, spiegelt aber das Leben eines Chamäleons wieder, so wie die Autorin ihr Leben sieht. Mit dem Schreibstil wurde ich sofort warm, auch wenn ich anfangs Zweifel hatte, dass mich die Geschichte packen würde. Gerade die Erinnerungen an ihre deutschen Großeltern sind ein Thema, dass ich wohl zum tausendsten Mal, wenn auch in anderer Form, gelesen habe. Interessanter wurde es dann, als die Familie nach Ägypten ging. Denn was wissen wir schon von dem Land, in dem die Pyramiden stehen, das von politischen Unruhen und Krieg geprägt ist? Wie wächst man als begabtes Kind dort auf? Wie lebt es sich dort als Chamäleon-Familie? Nach und nach verflochten sich die Geschichten und machten immer mehr Sinn. Dass das, was auf den ersten Blick so grundverschieden scheint, am Ende sich doch sehr ähnelt.
In der zweiten Hälfte des Buchs hatte es mich dann vollends gepackt. Der Tod des Bruders bildet nur den Rahmen der ergreifenden Familiengeschichte. Ich empfand es nur stellenweise traurig, denn die vielen Szenen und Stationen der Geschichte haben mich auch viel schmunzeln lassen. Aber es hat mich auch nachdenklich gestimmt. Wie hat sich in all den Jahren unsere Einstellung zu Migranten verändert, zu Integration? Oder zu multikulturellen Familien? Annabel hat einmal zu hören bekommen, sie sein »eine schöne Mischung.« Das lass ich jetzt einfach so stehen.
Ich möchte jedem das Buch ans Herz legen, die sich für das Leben zwischen den Kulturen und deren Familien interessieren. Mich hat das Buch sehr bereichert in meinem Denken und meine Neugier auf die ägyptische Kultur.

Ich bedanke mich beim Eichbornverlag für das Rezensionsexemplar und Annabel Wahba für die berührende Geschichte.

Etwas Persönliches noch zum Schluss. Ich habe vor vielen Jahren meinen Vater verloren, ohne von ihm Abschied nehmen zu können. Was bleibt, sind tatsächlich viele Fragen, die ich als Jugendliche nie gestellt habe. So sind mir viele Hintergründe meiner Familie entgangen. Deshalb kann ich das Eingangszitat nur unterschreiben. Man muss aber nicht zwangsläufig einen lieben Menschen verloren haben, um das zu verstehen. Aber absolut respektlos gegenüber der Autorin finde ich Sätze wie: »Stellt euch vor, ihr befindet euch im Sterbeprozess. Ihr seid bereit für die letzte Runde, das große Kerzenlöschen, ready to become a Ghost. Und neben euch am Bett sitzt eure Schwester und hält einfach nicht die Schnauze.« Aber genau das steht in einer Rezension zu diesem Buch.

Klappentext

Annabel Wahba sitzt am Bett ihres schwer kranken Bruders André. Von einem Bild schaut der Totengott Anubis auf ihn herab. Sie erinnert sich an die gemeinsame Kindheit in der Kleinstadt, in der ihre deutsch-ägyptische Herkunft etwas Exotisches war. In Andrés letzten Stunden unternimmt die Erzählerin eine Reise in ihre Familiengeschichte.
Zu den Vorfahren im München des Zweiten Weltkriegs. Ins New York der Fünfzigerjahre, wo ihre Mutter einst arbeitete. Ins Nildelta, wo ihr Vater aufwuchs und die Eltern noch die Ehepartner für die Kinder aussuchten.
Sie kann ihren Bruder nicht festhalten, dafür aber, was sie beide und ihre Eltern vor ihnen erlebt haben als ägyptisch-deutsche Chamäleons.

Über die Autorin

Annabel Wahba, Jahrgang 1972, studierte in München Politikwissenschaften und besuchte die Deutsche Journalistenschule. Seit 2007 ist sie Redakteurin im ZEITmagazin. 2018 wurde sie mit dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet, 2019 zur Reporterin des Jahres gewählt. Neben ihrer Arbeit hat Annabel Wahba Drehbücher geschrieben, darunter 2015 die von eigenen Erlebnissen inspirierte ARD-Fernsehkomödie HERBE MISCHUNG über eine Deutsch-Araberin in Israel.

Pressestimmen

„Ein Buch der Trauer, aber nicht traurig, sondern warmherzig, reflektiert, anekdotenreich.“ Cornelia Geißler, Berliner Zeitung

„Eine lebendige, vielfarbige und mitreißende Familiengeschichte, die universelle Fragen stellt: Was ist es, das uns prägt? Und was bleibt, wenn ein Leben viel zu früh zu Ende geht?“ Anne-Dore Krohn, rbb kultur

„Annabel Wahba erzählt, als könne sie den Tod ihres Bruders vielleicht doch noch aufhalten. Eine Tausendundeine-Nacht-Geschichte aus der bayrischen Provinz.“ Nora Gantenbrink

„Eine einfühlsame Erzählung von Identität und Familie.“ Tagesspiegel Ticket

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-8479-0097-9
Verlag: Eichborn Verlag
Erscheinungsjahr: August 2022
Seiten: 285, Hardcover

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Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger