AUCH DIE TOTEN – Juan Gómez Bárcena

Werbung. Herzlichen Dank an Secession Verlag für das Rezensionsexemplar.

Sein »Roman muss als Mythos der Moderne gelesen werden, der uns das Grauen lehrt, auf dem sie fußt.«

Ich habe darin tatsächlich sprachlich wie inhaltlich eine Odyssee vorgefunden. Es geht vordergründig um eine Mission, bei der Juan, ein ausgedienter spanischer Soldat, einen Indio mit gleichem Namen im Auftrag der Krone aufspüren soll. Dieser besitzt angeblich ein Buch, dass sowohl dem König als auch der Inquisition ein Dorn im Auge ist.

»Nur der Indio Juan hat es gewagt, die Stimme laut zu erheben, so laut, dass die Ohren der Welt taub wurden, und vielleicht ist er deshalb kein Kind und auch kein Indio mehr. Vielleicht, denkt Juan (der Jäger), war dies seine einzige Sünde: zu sprechen, als alle anderen geschwiegen haben.« Seite 110

Das Buch ist eine fünfhundert Jahre andauernde Reise durch postkoloniale Geschichte Mexikos. Wie auch in der Odyssee ist Zeit keine messbare Einheit, alles verschwimmt zwischen Fantasie und Wahrnehmung, die auch der Held irgendwann nicht mehr auseinanderhalten kann. Eine düstere Reise durch ein Land, das geprägt ist von Leid, Armut und Tod. Vor allem vom Tod – in Form von tausenden Kreuzen, an denen Indios sterben.

»Auch der Indio Juan hat sich geweigert. Er hat sich geweigert, in einer einfachen Schreibstube oder als ewiger Diener von Mönchen einer anonymen Gemeinschaft zu versauern. Er hat nicht erwartet, dass es ihm einfach so zufällt. Er hat sich nicht darauf beschränkt, davon zu träumen, dass die Welt sich verändert: Er hat sie selbst verändert.« Seite 190

Juan erliegt den Verlockungen des Goldes, das ihm versprochen wird, so wie es wohl vielen Spaniern ging. Doch schon bald wird ihm das Gold zu einer Last, von der er sich aber nicht mehr befreien kann. Bleiben ihm die eigentlichen Gründe seiner Mission anfangs nebulös, so erfährt er – vornehmlich von Geistlichen, denen er begegnet – die Hintergründe. Bei der Missionierung des Landes bediente man sich gern der Kinder, die leicht formbar waren. Doch der Indio Juan wird sehr schnell unbequem, weil er Widersprüche in der Bibel aufdeckt und offen ausspricht. Sein größter Frevel war aber, dass er die Bibel in seine Landessprache übersetzte, damit wurde er zur Zielscheibe der Inquisition. Er begegnet zahlreichen Menschen, die den Indio Juan kannten, ihn sogar Vater nannten. Doch auch von ihnen erfährt er nur Bruchstücke.
Desto weiter die Geschichte voranschreitet, umso resignierter werden die Spanier, denen langsam klar wurde, dass sie sich hier in einer Hölle befinden. Einer Hölle, die sie selbst erschaffen haben.

Juans Reise ist eine Reise durch Zeit und Raum, in der der Indio Juan seine Rolle ändert. Aus dem Ketzer wird ein Prophet, ein Ausbeuter und zuletzt ein Mafioso. Wir begegnen Migranten auf dem Weg in die USA und enden mit dem heutigen Rassismus. Doch der Gejagte bleibt bis zum Schluss ein Phantom.

Einfühlsam erzählt Bárzena von einem Volk, das durch die Eroberung, Unterdrückung und Ausbeutung zu Verlieren wurde. Er scheut sich nicht, Gräueltaten anzuklagen und Schuldige zu benennen. Durch die Verwandlung des Gejagten zeigt er das Bild eines voranschreitenden, skrupellosen Kapitalismus. Der Jäger Juan ist im Gegensatz dazu eine menschliche Figur, voller Zweifel und Mitgefühl, ein Sympathieträger.

»So oft schon haben wir unsere Dinge angebetet, sind vor unseren Maschinen auf die Knie gefallen, vor unsern Waren, unseren Bildschirmen.«

Bárcenas Roman ist inhaltlich wie sprachlich sehr anspruchsvoll. Die düstere Atmosphäre entwickelte mit jeder Seite einen stärkeren Sog und hinterlässt ein beklemmendes Gefühl. Ich konnte das Buch tatsächlich nur mit mehreren Unterbrechungen lesen. Letztlich war er eine Herausforderung für mich, der ich mich aber gern gestellt habe. Fast möchte ich sagen, dass es ein Trip in die Hölle war.
Dank der sehr guten Übersetzung von Matthias Strobel wurde die Reise zu einem Gesamtbild, das an Wortgewaltigkeit, sprachlicher Eleganz und grandiosen Bildern nicht zu übertreffen ist.
Alles im allem kein leichtes Werk, sondern anspruchsvolle Literatur, die begeistert.

»Alle Wege führen in die Wüste. …Trotzdem sind wir hier. Irgendwie setzen wir unsere Reise fort, als gäbe es irgendeine Hoffnung. Und wer weiß, … ob nicht die Reise selbst unsere Hoffnung ist.«

Klappentext

Mexiko, vor etwa fünfhundert Jahren. Neuankömmlinge beginnen Mittelamerika in Besitz zu nehmen. Neuankömmlinge, die sich selbst »Kastilier« nennen, die angestammten Bewohner »Indios«, und deren Land die »Neue Welt«. Mit ihrem Gott bringen die Europäer noch etwas mit: ihre Hölle. – Pest, Sklaverei und die Gewalt der Konquistadoren raffen die Bevölkerung dahin, und ihre Welt mit ihnen. Was aber tut ein Mensch, dessen Volk samt seiner Seele vernichtet wird? Der brillante »Indio Juan« antwortet mit radikalem Widerstand der Ideen und wird damit selbst dem spanischen Vizekönig gefährlich. Ein ausgedienter Söldner, auch er Juan genannt, wird von »Seiner Majestät« angeheuert, um den Indio gleichen Namens zu finden. Eine Menschenjagd beginnt, die uns nicht nur quer durch Mexiko, sondern auch durch dessen lange und blutige Geschichte bis in unsere Gegenwart führt. Juan Gómez Bárcenas fünf Jahrhunderte umfassender Roman muss als Mythos der Moderne gelesen werden, der uns das Grauen lehrt, auf dem sie fußt, als der Sturm, der vom Paradies her weht und Trümmer auf Trümmer häuft. »Auch die Toten« zeichnet die Kolonialgeschichte von den Anfängen bis heute nach, es deckt die Herkunft des modernen Menschen auf und warnt davor, dass dessen zerstörerische Kraft auf ihn selbst zurückfällt.

Über den Autor

Juan Gómez Bárcena ( geb. 1984, in Santander ) studierte Geschichte und Literaturwissenschaften in Madrid. Sein Band mit Erzählungen »Los que duermen« (Die, die schlafen) wurde 2012 von der spanischen Zeitschrift »El Cultural« als eines der besten Debüts des Jahres ausgezeichnet. Er ist Herausgeber einer Anthologie mit Texten spanischer Autoren unter dreißig. Er lebt als Schriftsteller und Dozent für Kreatives Schreiben in Madrid.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-96639-058-3
Verlag: Secession Verlag
Erscheinungsjahr: 28. August 2022
Übersetzung: Matthias Strobel
Seiten: 494, Hardcover

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Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger