Liebes Arschloch von Virginie Despentes

Werbung. Herzlichen Dank an Kiepenheuer&Witsch für das Rezensionsexemplar.

Wenn ihr mich nach meinen drei noch lebenden Lieblingsschriftstellern fragen würdet, müsste ich diese Frage nun korrigieren. Richtig wäre Lieblingsschriftsteller*innen. Virginie Despentes hat sich neben Michel Houellebecq und Philippe Djian in diese Riege eingereiht.

Wenn man dieses Buch zur Hand nimmt, erwartet einen ein moderner Briefroman, der den Begriff des »Briefs« nicht allzu wörtlich nimmt, sondern ihn auf schriftliche Statements, wie Instagram-Beiträge und -Nachrichten, erweitert. Wir werden in die Geschichte eingeführt durch einen Insta-Post des frustrierten Schriftstellers Oscar, Anfang 40, der Rebecca, eine bekannte Schauspielerin jenseits der 50, heimlich bewundert und dennoch alles daran setzt, sie zu beleidigen.

Zitat: »Tragische Metapher einer Epoche, die den Bach runtergeht – diese göttliche Frau, die zu ihren besten Zeiten so viele Teenies in die Faszination der weiblichen Verführung eingeführt hat – heute zu einer Schlampe verkommen.«

Rebeccas Antwort lässt nicht lange auf sich warten. »Liebes Arschloch, ich habe deinen Beitrag auf Insta gesehen …« Auch Rebecca greift tief in die Kiste der verbalen Schläge unterhalb der Gürtellinie.
Oscar antwortet erstaunlich freundlich und stellt sich als der jüngere Bruder von Rebeccas bester Jugendfreundin vor. Auch erzählt er von Zoe. Sie war vor Jahren seine Pressereferentin im Verlag und ist nun eine einflussreiche Influencerin, die einen MeToo-Skandal gegen ihn ins Rollen gebracht hat, bei dem Oscar zu Unrecht, wie er meint, die Hauptrolle spielt. Es tobt ein Shitstorm gegen ihn.

Die beiden führen einen regen Austausch über Themen wie MeToo, Feminismus, Social Media und tauschen sich über ihre Süchte, Alkohol und Drogen aus. Trotz ihrer unterschiedlichen Wahrnehmung der Welt wird der Ton allmählich freundlicher.
Sie unterstützen sich gegenseitig in ihren Bemühungen, clean zu werden, und geben sich Mut und Hoffnung. Der Austausch zieht sich über Monate hinweg, und sogar die Corona-Pandemie spielt eine Rolle. Sie staunen ob der Ausgangssperre und tauschen sich über ihre Gefühle aus, wenn sich die Welt so verändert und was das mit Menschen macht.
Immer wieder wird der rege Austausch von Zoes Instagram-Beiträgen unterbrochen. So erfahren wir im Laufe des Buches aus den verschiedenen Perspektiven von Oscar und Zoe, was wirklich passiert ist.

Insgesamt behandelt das Buch viele Themen, die uns in den letzten Jahren beschäftigt haben und immer noch beschäftigen. Am Ende bleibt das Gefühl, dass dieses Buch ein Plädoyer dafür ist, aufeinander zuzugehen und miteinander zu reden. Das Ende hat mich überrascht und meine Erwartungen übertroffen.
Despentes ist es hervorragend gelungen, die Charaktere glaubwürdig und tiefgründig darzustellen. Sie zeigt sie in all ihrer Komplexität, ihrer Verletzlichkeit, ihrer Wut und ihrem Frust. Nicht ein einziges Mal fand ich etwas befremdlich oder konstruiert. Plakative Thesen werden sowohl in Zoes Beiträgen als auch im Schriftverkehr zwischen Oscar und Rebecca vorgebracht, bei denen eine Annäherung zwischen den beiden zunächst unmöglich erscheint. Doch die Autorin schafft es mit viel Fingerspitzengefühl, die Dialoge der beiden zu wenden. Sie setzt auf die Zwischentöne, in denen in jedem Konflikt die Lösung verborgen ist.

Ich war wirklich geflasht von diesem Buch, das ich gar nicht mehr aus der Hand legen wollte. Drei zu kurze Nächte habe ich Virginie Despentes zu verdanken, weil ich las, bis ich einfach einschlief. Es ist also nicht verwunderlich, wenn ich eine eindeutige Leseempfehlung ausspreche.

Klappentext

Mit der ihr eigenen Verve und Sprachgewalt nimmt sich Despentes der Themen unserer Zeit an – #MeToo und Social Media, Drogen, Machtmissbrauch, Feminismus. Ungeschönt, aber nicht unversöhnlich hält Despentes unserer Gesellschaft den Spiegel vor.

Rebecca, Schauspielerin, über fünfzig und immer noch recht gut im Geschäft. Oscar, dreiundvierzig, Schriftsteller, der mit seinem zweiten Roman hadert, und Zoé, noch keine dreißig, Radikalfeministin und Social-Media-Aktivistin. Diese drei, die unterschiedlicher nicht sein könnten, treffen nach einem verunglückten Instagram-Post Oscars aufeinander. Wie? Digital. Und so entsteht ein fulminanter Briefroman des 21. Jahrhunderts, in dem alle wichtigen gesellschaftlichen Themen unserer Zeit verhandelt werden. Rebecca, Oscar, Zoé, alle drei sind vom Leben gezeichnet, voller Wut und Hass auf andere – und auf sich selbst. Aber sie müssen erkennen, dass diese Wut sie nicht weiterbringt, sondern nur einsamer macht, dass Verständnis, Toleranz und sogar Freundschaft erlernbar und hin und wieder sogar überlebenswichtig sind.
Mit dieser Tour de Force durch gesellschaftliche Debatten und Konflikte behauptet Virginie Despentes klar ihre Position als eine der wichtigsten Autor*innen Frankreichs, die Wut und Aggression gekonnt einsetzt, um Versöhnung zu predigen. Ganz große Literatur.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-462-00499-1
Verlag: Kiepenheuer&Witsch
Erscheinungsdatum: 09.02.2023
Seiten: 336, Hardcover
Übersetzt von: Ina Kronenberger, Tatjana Michaelis

Avatar-Foto
Über franzosenleser 80 Artikel
"Es gibt nur einen Weg, um Kritik zu vermeiden: Nichts tun, nichts sagen, nichts sein" Aristoteles

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*