AN DEN UFERN VON STELLATA – Daniela Raimondi

»Die Fremde aus dem Wohnwagen war schuld daran, dass wir zu einer Familie von Bastarden wurden.«

So beginnt das 200 Jahre umfassende Epos der Familie Casadio, deren Geschichte mit dem schwermütigen Giacomo um 1800 beginnt, der es sich zur Lebensaufgabe macht, eine Arche zu bauen. Ein Schiff nach dem anderen baut er, aber keins will schwimmen. Er trifft auf Viollca, eine schöne, stürmische zingara, die in seiner Hand liest, dass er ihr Mann für Leben wird. Beide Familien sind dagegen, so unterschiedlich wie sie sind, ist das kein gutes Omen. Und tatsächlich sollen ihre Kinder entweder Viollcas dunkles Aussehen und ihre übernatürlichen Fähigkeiten erben oder Giacomos helle Augen und seine Melancholie.
Die einen haben Vorahnungen, die anderen plaudern mit den Toten, eine wird in glücklichen Stunden einen Bienenschwarm anlocken. Es werden Kinder früh sterben, manche finden nie ihren Platz in der Welt. Glück und Unglück sollen über Generationen nahe beieinander liegen, immer überschattet von Viollcas Prophezeiung: In den Tarotkarten sah sie den Tod, eine Schlange und viel Wasser.
Was jetzt ziemlich mystisch klingt, ist es gar nicht. Eher eine weitverzweigte Familiengeschichte, in der sich mancher in schlechten Zeiten an sein »vorhergesagtes Schicksal« erinnert.
Warmherzig und mit viel Gefühl erzählt Raimondi auf eine typisch italienische Art, ein bisschen Drama hier, ein wenig Humor dort. Doch wir haben keine Zeit, unser Herz an einen der Protagonisten zu verlieren, denn viele Charaktere begleiten wir nur wenige Kapitel. Das tat der Spannung aber keinen Abbruch, weil die Autorin es schafft, einen neugierig zu machen, wie es denn nun weitergeht – mit den Kindern oder Enkeln. Und es sind nicht wenige. Zum Glück hat mir der Stammbaum am Ende des Buches ab und zu geholfen, nicht den Überblick zu verlieren.

Raimondi schafft es auch, die geschichtlichen Ereignisse und deren Auswirkungen eng und glaubwürdig mit der Familie zu verflechten. Immerhin überstehen sie zwei Weltkriege, müssen erleben, wie das Hochwasser des Pos alles mit sich reißt, werden von der Arbeitsmigration in den Norden erfasst oder wandern gar nach Brasilien aus. Aber auch hier kann sie nur an der Oberfläche bleiben, ein paar interessante Fakten, eine gute, authentische Kulisse, das war’s dann aber auch.
Wie gesagt, das ist alles wirklich spannend und dank des leichten Schreibstils gut und schnell lesbar. Trotzdem fehlte mir die Nähe zu den Figuren. Ich könnte heute nicht mehr sagen, wie sie hießen oder wem was widerfahren ist, was eigentlich schade ist.
Zum Übernatürlichen und dem Aberglauben kann man stehen, wie man will. Ich mochte es, denn es passte, so wie Raimondi es verflochten hat.
Ich bin also etwas gespalten. Auf der einen Seite mochte ich es sehr, aber es wird bis auf wenige kleine Szenen nichts im Gedächtnis bleiben. Alles zog an mir vorbei wie der Po, an dessen Ufern ich für ein paar Stunden stand und der Geschichte lauschte.

Klappentext

Ein Dorf in der Lombardei zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts: Als ein Wagenzug des fahrenden Volkes nach sintflutartigen Regenfällen gezwungen ist, in Stellata zu überwintern, nimmt das Schicksal seinen Lauf. Der schwermütige Giacomo Casadio verliert sein Herz an Viollca, eine Frau mit rabenschwarzer Mähne und Federn im Haar. Die beiden bekommen einen Sohn, der sich am Grab seines Vaters weiter lebhaft mit ihm – und mit anderen Toten – unterhält. Doch damit nicht genug. Für ihren Enkel Achill, der das Gewicht eines Atemzugs messen will, und Neve, die mitten im Sommer in einem Schneesturm zur Welt kommt, und auch für die kühne Donata, die über ihren Idealen sich selbst vergisst, hält das Leben die Herausforderung bereit, weder den Kopf in den Wolken zu verlieren noch in den Fluten unterzugehen.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-550-20176-9
Verlag: Ullstein Verlag
Erscheinungsjahr: 28. Juli 2022
Übersetzung: Judith Schwaab
Seiten: 512, Hardcover

Über die Autorin

Daniela Raimondi wurde in der Lombardei geboren und verbrachte den größten Teil ihres Lebens in England. Sie hat zehn Gedichtbände veröffentlicht, die mit wichtigen nationalen Literaturpreisen ausgezeichnet wurden. Ihr Romandebüt An den Ufern von Stellata hat es auf Anhieb auf die italienische Bestsellerliste geschafft und wird in zahlreiche Sprachen übersetzt.

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Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger

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