Schwarze Tage, weiße Nächte – Philippe Djian

Schwarze Tage, weiße Nächte von Philippe Djian

erschienen bei Diogenes (2002)

Wenn ich gefragt werde, welche Autoren ich lese, dann nenne ich, neben einigen anderen, auch Philippe Djian. Vom Gegenüber heißt es dann meist: »Ach so, Betty Blue«. Mir scheint es, als würde Djian zumeist auf sein erstes Werk, das bereits 1986 erschien, reduziert. Zugegeben, es hat damals genau den Zeitgeist einer Generation getroffen. Doch er hat seither 37 Bücher veröffentlicht, von denen meines Wissens 26 ins Deutsche übersetzt wurden, zuletzt »Die Ruchlosen« (2021). »Schwarze Tage, weiße Nächte« stammt aus der Mitte seiner bisherigen Schaffenszeit und ist ein wirklich bemerkenswerter Roman.
Francis, von Beruf Schriftsteller, verbringt schlaflose Nächte (nuit blanche, wörtlich übersetzt: eine weiße Nacht, bedeutet im Französischen eine schlaflose Nacht). Sein Leben ist ein dämmriger Dauerzustand der Schlaflosigkeit, seit seine Frau bei einem Unglück starb. Er kann nicht mehr zwischen Realität und Traum unterscheiden. In diesem Zustand erlebt er ein Sexabenteuer nach dem anderen, in der Küche, im Dessousgeschäft, im Wohnzimmer, überall und jederzeit. Doch es ist nicht klar, ob er das alles wirklich erlebt oder nur träumt. Schließlich reist er mit seinem Freund, dem erfolgreichen Schriftsteller Patrick, in die USA und trifft dort auf Madonna. Wofür? Natürlich um Sex zu haben.
Also ein Roman wie man ihn von Djian erwartet, doch mit etwas mehr Sex als in seinen früheren Romanen und auch die Story mutet, spätestens beim Zusammentreffen mit Madonna, skurriler an, als man es von Djian erwartet.
Oberflächliche Leser*innen mögen denken es geht in diesem Buch vorwiegend um Sex. Doch lässt man sich auf die ganze Tiefe des Werkes ein, merkt man schnell, dass jede einzelne Sexszene mehr über die Figuren verrät als es 20 Seiten Text könnten. Die Szenen dienen einer komprimierten Darstellung der Sinnsuche des menschlichen Lebens.

Wie so oft bei Djian, geht es im Kern um enge menschliche Beziehungen, die der Autor bis ins Detail seziert. Das Buch wirkt wie eine Zusammenfassung der Themen vorangegangener Werke: Freundschaft, Sex, Alltag, Wahn, (Sinnes-)Täuschungen und natürlich das Schreiben. Es geht also auch um das (langweilige) Leben als Schriftsteller: Lesungen, Vertragsverhandlungen, nervende Agenten und dringend benötigte Vorschüsse. Die Ausschweifungen existieren nur in der Fantasie. Die Literaturszene, der Djian schon immer kritisch gegenübersteht, wird mit wuchtigen Seitenhieben bedacht, ja das Buch ist auch eine Satire auf den Literaturbetrieb der sich von der Kunst zum Kommerz entwickelt. (Eine Entwicklung, die damals schon weit fortgeschritten war und heute wird dieser Zustand schon fast als normal angesehen.)

Der Schreibstil ist, wie von Djian gewohnt: Außergewöhnliche Bilder und Metaphern werden mit einer Leichtigkeit zu einem Ganzen verknüpft, die seinesgleichen sucht. Die Dialoge sind bestechend real und wirken lebendig. Durch die Perspektive des Ich-Erzählers nahm mich der Autor mit, direkt in den Kopf von Francis und schon bald konnte auch ich nicht mehr unterscheiden. Was ist in dieser Geschichte real und was ist nur erträumt? Auf angenehme Weise versetzte er mich in den eingangs beschriebenen Dämmerzustand des Protagonisten, ich wurde zum Protagonisten und versank völlig in der Geschichte, folgte seiner subjektiven Wahrnehmung der Welt.
Für mich war es einer der Besten seiner Romane und es gibt eine klare Leseempfehlung, wie übrigens alle bisherigen Werke des Autors.

Klappentext:
Schwarze Tage nach Ediths Tod. Francis, der sich als Schriftsteller schon viele Geschichten ausgedacht hat, arbeitet nun daran, sein Leben neu zu erfinden. Warum nicht mit einem Porno? Francis läßt alle Geister der Sinnlichkeit los, um das Leben über den Tod siegen zu lassen.

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