LIEBE IST GEWALTIG – Claudia Schumacher

LIEBE IST GEWALTIG ist tatsächlich ein gewaltiges Buch. Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, haut dir Juli Ehre ihre Geschichte um die Ohren, schonungslos, sarkastisch, wütend. Das Buch muss man aushalten können, denn es ist brutal, intensiv und und von einer tragischen Komik. Ein Roman, der einen bis zur letzten Seite gefangen hält und sprachlich wie inhaltlich unter die Haut geht.

»Jeder erzählt eine andere Geschichte über die selben Dinge. Die Wahrheit ist reine Verhandlungssache.«

Juli wächst mit ihren drei Geschwister in einer wohlsituierten Anwaltsfamilie in der Nähe von Stuttgart auf. Doch hinter der Fassade sind die Kinder einem gewalttätigen, manipulativen Vater ausgeliefert, der sie mit Fäusten, Fußtritten und Worten misshandelt.

»Ich habe Bilder im Kopf. Mamas blaue Flecken morgens beim Frühstück. Papas Salvador-Dalí-Blick, wenn er sagt, dass er mich umbringt. Wie bei einem defekten Projektor. Der kann jederzeit angehen, ungewollt und in den blödesten Momenten.« S. 20

Ihre Mutter steht tatenlos daneben, verlangt sogar Verständnis und Mitgefühl von ihren Kindern, weil sie schließlich das Opfer sei. Alle müssen perfekt funktionieren, Höchstleistung abliefern, um nicht seinen Gewaltattacken ausgesetzt zu sein. Juli muss mit zwölf ihre Eislaufkarriere aufgeben und damit ihre Stellung als Lieblingstochter.

»In der Wagner-Straße 7 wurde Durchschnittlichkeit verachtet. Wert hatte nur das Herausragende.« S. 213

Wir begleiten die hochbegabte Juli über drei Jahrzehnte auf ihrem Weg ihrer Zweifel und dem Versuch, sich selbst zu finden. Als Jugendliche landet sie nach einem Selbstmordversuch in der Reha, später studiert sie nach Berlin, nimmt Drogen und wird Profigamerin, mit dreißig flüchtet sie sich in eine scheinbar normale Beziehung und verbiegt sich, um ihre eigene Vergangenheit aus ihrem Gedächtnis zu löschen. Sie nennt sich mal Juli, mal Jules mal Julia, nur um anderen zu gefallen. Sie stolpert von einer Beziehung in die nächste, begegnet allen mit Misstrauen, kann sich niemanden öffnen und passt sich letztlich resigniert an. Nur mit ihrem Bruder Bruno fühlt sie eine tiefe Verbundenheit, sie geben sich gegenseitig Halt und Schutz.

Tief gezeichnet ist auch die Rolle der Mutter, die nicht nur Opfer ist, sondern auch tatenlos zuschaut. Sie besticht Juli immer wieder mit ausufernden Shoppingtouren, verteidigt ihren Mann, verlangt Mitleid und Schweigen von ihren Kindern und leugnet letztendlich alle Realität, was Juli nur noch mehr verunsichert und an sich zweifeln lässt.

»Am Anfang hatte ich kurz Mitleid mit ihr. Aber was sind das für Fragen: Haben wir dir nicht alles gegeben? Ja, bravo: Dresche und Streuselkuchen.« S. 111

Mich haben der durchdachte Aufbau der Geschichte und die sprachliche Anpassung an das jeweilige Alter Julis fasziniert. Psychologisch fein seziert Claudia Schumacher die Auswirkungen einer dysfunktionalen Familie und die Folgen häuslicher Gewalt und das mit einer Sprachgewalt, dass mir manchmal der Atem stockte. Trotz allem ließ sich das Buch leicht lesen. Sie versteht es, mit einem scharfzüngigen Humor und viel Sarkasmus einen gewissen Abstand zum Geschehen zu schaffen. Denn Juli jammert nicht, sie ist rebellisch, zynisch und kämpferisch. Und irgendwie immer neben der Spur. Es ist tragisch und faszinierend zugleich, wie dicht Liebe und Gewalt beieinanderliegen.

„Blut ist dicker als Wasser, das gilt nur für die dysfunktionale Familie. Aus einem guten Elternhaus spazierst du raus, sobald du volljährig bist, und machst, was du willst. Aber die schlechte Familie, ausgerechnet die, lässt dich nicht los.“ (S. 204)

Ja, es ist ein hartes Thema, das sicher nicht jedem schmeckt. Trotzdem habe ich das Buch nicht nur als solches empfunden. Es gab Stellen, die mich schmunzel ließen, ich mochte ihren bitteren Humor, was unheimlich dabei geholfen hat, das Buch in kürzester Zeit zu verschlingen. Begeistert haben mich vor allem ihre Sätze, mit denen sie alles auf den Punkt bringt, kurz und gewaltig, wie eine Ohrfeige mitten ins Gesicht. Ich habe in letzter Zeit einige Bücher mit dieser durchaus belastenden Thematik gelesen, dennoch ist das Buch etwas völlig anderes, was vor allem daran lag, dass die Protagonistin so herrlich unbeugsam und provokant ist und mir mit ihrer rotzigen Art treffsichere Metaphern für ihre Gefühlswelt um die Ohren haut.

Das Buch bekommt eine dicke Empfehlung von mir und einen besonderen Platz in meinem Herzen, weil es mich an manche Dinge aus meiner eigenen Vergangenheit erinnert hat.

Klappentext

Juli wächst in einer Vorzeigefamilie auf: Die Eltern sind Rechtsanwälte, sie ist Klassenbeste. Doch in der Kleinstadtvilla herrscht das Grauen. Der Vater drillt die Kinder auf Leistung, prügelt sie und seine Frau. Juli wird älter, fordert ein Ende der Gewalt, deren Realität von der Mutter vehement abgestritten wird. Einzig ihre Geschwister und eine Maus geben Halt. Doch wie kann man sich befreien, wenn man weder den Eltern noch den eigenen Erinnerungen traut? Die Befreiung gerät zum Feldzug – gegen die Eltern und das eigene Ich. Drei Jahrzehnte folgen wir Juli, die mit aller Macht versucht, die Deutungshoheit über ihr Leben zu erlangen. Ein eindringlicher Roman über Verletzungen und eine mögliche Heilung, voller Originalität und Wärme.

»Achtung: nicht niedlich – Claudia Schumacher haut uns unerbittlich und voller Poesie die Welt ihrer Heldin um die Ohren. Ein Debüt mit phänomenaler Wucht, komplett unweglegbar.« Simone Buchholz

»Ein viel zu oft beschwiegenes Thema, eine kraftvolle Sprache, eine Geschichte, die wütend macht und befreit. Dieser Roman tröstet, ohne zu lügen.« Teresa Bücker

Über die Autorin

Claudia Schumacher, 1986 in Tübingen geboren, verbrachte ihre Jugend im Stuttgarter Speckgürtel. Nach dem Studium in Berlin folgten sieben Jahre in Zürich, wo sie als Journalistin und Kolumnistin arbeitete, Redakteurin bei der ›NZZ am Sonntag‹ war. Heute lebt die Autorin in Hamburg und schreibt unter anderem für ›DIE ZEIT‹. 2022 ist sie Literaturstipendiatin der Kunststiftung Baden-Württemberg. Ihr Debüt »Liebe ist gewaltig« ist für den Klaus-Michael-Kühne-Preis nominiert.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-423-44088-2
Verlag: dtv Verlag
Erscheinungsdatum: 18.05.2022
Seiten: 376, Hardcover

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Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger