AM TISCH SITZT EIN SOLDAT – Joachim B. Schmidt

Werbung, danke an Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

»Diese Insel weist die Menschen ab, gönnt nur Seevögeln und Fischen ein behagliches Leben. Die Isländer mit ihren Schafen und Pferden, ihren Gummistiefeln und Kaffeemühlen; sie haben hier eigentlich gar nichts verloren.« S.44

Genauso fühlte sich Island für mich an, als ich das Buch las, das bereits 2014 erschien und nun bei Diogenes neu aufgelegt wurde. Kalt, wenig einladend und trotzdem hatte es eine gewisse Faszination.

Jón ist mittlerweile von der Insel geflüchtet und studiert in Hamburg Medizin. Als er einen Brief erhält, dass seine Mutter im Sterben liegt, macht er sich auf die Heimreise. Viele ermüdende Kilometer muss er am Ende zu Fuß nach Mývatnsveit laufen. Über die Menschen, die Jón dort erwarten, schreibt Schmidt:

»Die Bauern in der Mývatnsveit … sind kauzige Menschen. Da gibt es ziemlich missratene Geschöpfe, die wohl nur am äußersten Ende der Welt geduldet werden.« S.14

Und Jóns Familie, Nachbarn und Freunde gehören zu den Eigenbrötlern, die diesem kargen Landstrich das Lebensnotwendigste abringen.
Wir schreiben das Jahr 1967, auf dem elterlichen Hof erwarten ihn nur noch seine herrische Tante Rósa und sein geistig behinderter Bruder Palli. Und während sie darauf warten, dass die Mutter stirbt, gleiten Jóns Gedanken immer wieder zurück in seine Kindheit. Sein Vater starb beim Schafabtrieb im Gletscherfluss, als Jón 2 Jahre alt war. Das weiß jeder in der Gegend. Und noch etwas geschah im 2. Weltkrieg, von dem Island nur marginal betroffen war, ein deutsches Militärflugzeug stürzt in der Nähe des Hofes ab. Den Soldaten kann man retten, er wird allerdings kurz darauf festgenommen und sein Flugzeug liegt noch heute an Ort und Stelle. An viel kann sich Jón nicht mehr erinnern. Aber stimmt es auch, was man sich hier erzählt?

Wieder einmal überrascht mich Schmidt mit einer Geschichte, die sich ganz langsam dreht und zu einem Krimi wird. Denn das Leben der Familie wird von einer großen Tragödie überschattet, über die man schweigt.

Ich mag Schmidts einfühlsame Art zu schreiben, seinen Tiefgang aber auch seinen leisen Humor. Sein ungeschönter Blick auf die einfach Menschen, die in diesem abgeschiedenen Teil der Welt leben, die einsilbig sind, sich die Einsamkeit erträglich trinken, die irgendwie vergessen wurden vom Rest der Welt und sich nicht immer um Recht und Gesetz scheren.

Beim Lesen hat man eigentlich nur das Bedürfnis, einen heißen Tee zu trinken und sich in eine Decke zu kuscheln. Definitiv wird die Geschichte noch lange in mir nachhallen, denn bisher hat mich kein Buch über Island atmosphärisch so eingefangen, dass es bleibenden Eindruck hinterlassen hätte. Auch wenn sich meine Sympathie für die meisten Figuren in Grenzen hielt, hab ich sie am Ende etwas bedauert, dass sie dort am Ende der Welt zurückbleiben mussten.
Ich denke, das Buch ist ein Muss für alle Schmidt-Fans. Hin und wieder blitzt auch der leicht schwarze Humor des Autors durch, den er in seinen Kalmann-Büchern perfektioniert hat.

»Vielleicht ist es der Zauber des Nordens, der seine Bewohner im festen Griff hält. Wird man nämlich von solch dunklen Gedanken geplagt und entschließt sich vielleicht, der Insel den Rücken zu kehren, lässt die Sonne unverhofft ihr goldenes Licht durch die Wolken strahlen, und die Millionen Schneeflocken verwandeln sich in Kristalle, die sich sanft auf die Auen legen und das Land in eine zauberhafte Märchenwelt verwandeln, sodass das mürbe Islandherz voller Stolz zu schlagen beginnt. Und die Frage, wie man es hier in dieser Einöde nur aushalten soll, ist plötzlich vom Tisch.« S.124

Klappentext

Jón hat genug von seiner komplizierten Familie, der Last der alten Tragödien, dem isländischen Landleben. Er will weg und flüchtet sich in ein Medizinstudium im fernen Hamburg. Als seine Mutter im Sterben liegt, kehrt er nach Island zurück, nur um festzustellen, dass die Vergangenheit dort auf ihn gewartet hat. Auf dem abgeschiedenen elterlichen Hof im Hinterland der Mývatnssveit erstehen die Geister seiner Kindheit vor ihm, und es kostet ihn allen Mut, sich ihnen endlich zu stellen.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3257-24689-6
Verlag: Diogenes Verlag
Erscheinungsjahr: 23. August 2023
Seiten: 320, Taschenbuch

Über den Autor

Joachim B. Schmidt, geboren 1981, aufgewachsen im Schweizer Kanton Graubünden, ist 2007 nach Island ausgewandert. Seine Romane ›Tell‹ und ›Kalmann‹ waren Bestseller; mit ›Kalmann‹ erreichte er den 3. Platz beim Schweizer Krimipreis und erhielt den Crime Cologne Award. ›Tell‹ war auf Platz 1 der Schweizer Bestsellerliste und erhielt den Bündner Literaturpreis. Der Doppelbürger lebt mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Kindern in Reykjavík.

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Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger

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