DIE GESCHWISTER – Brigitte Reimann

Werbung. Herzlichen Dank an den Aufbau Verlag für das Rezensionsexemplar.

1961, kurz vor dem Mauerbau, Elisabeths Bruder sieht für sich keine Zukunft in der DDR und will nach Westdeutschland gehen. Elisabeths Enttäuschung ist groß, weil schon Konrad, der ältere Bruder, der DDR vor einigen Jahren den Rücken gekehrt hat. Die Geschwisterliebe steht vor der Zerreißprobe. Mit allen Mitteln versucht sie ihn zum Bleiben zu bewegen. Als sie nicht mehr weiterweiß, wendet sie sich an ihren Freund und verrät Ulis Fluchtpläne.

»Das vergesse ich dir nie … Das werde ich dir nie verzeihen.« S.5

Es gibt Bücher, die kann man nicht neutral oder objektiv betrachten. So geht es mir mit »Die Geschwister«, denn das Buch und ich haben eine gemeinsame Vergangenheit, die ich nicht unterschlagen kann.
Ich denke, dass man die Protagonistin Elisabeth besser verstehen kann, wenn man sie im historischen Kontext sieht. Die Teilung Deutschland war noch nicht alt und doch hatte die DDR ein immer größer werdendes Problem mit der Abwanderung von Fachkräften. Wer zu dieser Zeit noch an die proklamierten Werte des Staates glaubte, fühlte sie verraten. So auch Elisabeth, die ihre Zukunft als Malerin in einem Kombinat hat. Sie ist aber keineswegs angepasst. Parteilos und Spross einer bürgerlichen Familie zu sein, steht sie unter Beobachtung der Stasi. Doch sie kämpft um ihre Anerkennung, lässt sich in ihrer Persönlichkeit nicht verbiegen. Daher hat sie keinerlei Verständnis für ihren großen Bruder Konrad, der bereits vor einiger Zeit die DDR verlassen hat. Doch noch trifft sich die Familie in Westberlin, noch steht keine Mauer aus Beton zwischen ihnen, wohl aber eine in ihren Köpfen. Sie hat kein Verständnis für ihn.

»… ich sagte mir, dass die ganze Legende von Geschwisterliebe und Stimme des Blutes ein mystischer Unsinn sei und ich einen Überläufer nicht in die Arme schließen werde, nur weil er zufällig mein Bruder ist.« S. 47

Umso bitterer trifft es sie, dass nun auch ihr Bruder Uli gehen will. Er, mit dem sie ein besonders starkes Band verbindet. Uli sieht keine Zukunft in Ostdeutschland, muss mit ansehen, wie weniger qualifizierte Ingenieure auf der Karriereleiter an ihm vorbeiziehen, weil er kein Parteibuch hat.

»Für den Brückenbau brauche ich exaktes mathematisches Wissen und keine Sympathien und erst recht kein Parteibuch.« S.47

Im Gegensatz zu seinem Bruder, der sich von materiellen Dingen leiten ließ, sieht er sich ausgebremst in seiner beruflichen Entwicklung. Zwischen Elisabeth und Uli entsteht ein heißer Disput. Beide versuchen, Verständnis für ihre Sichtweise zu erlangen. Doch Elisabeth geht einen Schritt zu weit und verrät ihn – wohl eher aus Verzweiflung.

»Mein Bruder hat mich belogen – das war nur ein geringes Gewicht mehr zu dem übrigen, aber es war dieses Gewicht, das die Last auf meinem Herzen unerträglich machte.« S.33

Reimanns Schreibstil ist unverkennbar und sie zog mich allein mit ihren poetischen Sätzen in die Geschichte hinein. Schon auf der ersten Seite habe ich einen Gang runtergeschaltet, weil ich jeden Satz fühlen und genießen wollte.

»Charlotte aber schritt auf ihren nadeldünnen Absätzen über unsere Bewunderung hinweg und durch ›dieses enge ärmliche Leben in eurer Republik‹ und über die Sektorengrenze nach Westberlin, zu Leiser und Hirn am Kudamm, und eines Tages schritt sie durch das Tor zum Auffanglager Marienfelde, und Konrad war bei ihr.« S.35

Reimann verarbeitet in dem Buch fiktional ihre eigene Geschichte – ihr Bruder verließ 1960 die DDR – aber auch den tiefen eigenen Konflikt und den einer ganzen Generation.
Durch Zufall wurde 2022 das Originalmanuskript wieder aufgefunden, der Zensur zum Opfer gefallene Passagen wurden hier in die Geschichte wieder eingefügt. Es gibt einen mehrseitigen Anhang, der zum besseren Verständnis des Buchs hilfreich ist. Diese Neuauflage wurde erstmals ins Englische übersetzt.

Klappentext

Die große Neuausgabe eines der meistdiskutierten Bücher der DDR-Literatur

Das Sensationsbuch erstmals so, wie die Autorin es schrieb

Dank eines Glücksfundes können wir diesen Roman, der aufgrund seiner verblüffenden Modernität derzeit international für Begeisterung sorgt, in einer ungekürzten, politisch ungeschönten Fassung auch hier neu entdecken.

Ostern 1961 erfährt Elisabeth, dass ihr über alles geliebter Bruder in den Westen gehen will, weil er in der DDR keine Zukunft sieht. Was wird bleiben von ihrer Gemeinsamkeit, wenn jeder seinen Idealen folgt? Wenige Tage hat sie noch Zeit, mit Uli zu reden.
Die freiherzigere und mutigere, zugleich reifere und klarsichtigere Neuausgabe steht symbolhaft für das viel zu kurze Leben dieser faszinierenden Schriftstellerin, die sich selbst stets treu blieb.
»Wer etwas über Mut und Hingabe erfahren möchte, muss Reimann lesen. Sie zeigt uns, wie man es krachen lässt, scheitert, wieder aufsteht und neu beginnt. Brigitte Reimann ist eine Ikone – eine Pionierin weiblicher Befreiung!« CAROLIN WÜRFEL

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-351-04204-2
Verlag: Aufbau Verlage
Herausgeber:innen: Angela Drescher, Nele Holdack
Erscheinungsjahr: 14.2.2023
Seiten: 224, Hardcover

Porträtfoto Brigitte Reimann
© Aufbau Verlage

Über die Autorin

Brigitte Reimann wurde am 21. Juli 1933 als Tochter des Journalisten und Bankkaufmanns Willi Reimann und seiner Frau Elisabeth und als ältestes von vier Geschwistern in Burg (bei Magdeburg) geboren. Mit 14 Jahren erkrankte sie an Kinderlähmung, musste ein halbes Jahr auf einer Isolierstation zubringen und beschloss in dieser Zeit, Schriftstellerin zu werden. Nach dem Abitur 1951 arbeitete sie zunächst als Lehrerin. Sie heiratete 4 Mal, alle Ehen blieben kinderlos. Ende der 60er Jahre erkrankt sie an Krebs und stirbt am 20. Februar 1973 im Alter von 39 Jahren.
Ihr kurzes Leben zeichnet sich durch eine intensive Schaffensphase aus. Mit 22 Jahren veröffentlichte sie ihr erstes Buch, ein Jahr später wurde sie in den Schriftstellerverband aufgenommen. Nach vielen Werken (siehe eine Auswahl unten) schrieb in den letzten Jahren mit großer Vehemenz an ihrem letzten Roman Franziska Linkerhand, der unvollendet bleibt und erst 1974 postum veröffentlicht wurde.
Reimann gehört zu den meistgelesenen Autorinnen der DDR.

Mit der Verschärfung der Zensur 1965 verliert sie ihre Illusionen über ihren Beruf als Schriftstellerin und die sozialistische Ideologie. Sie will sich von Bürokraten nicht vorschreiben lassen, was sie zu schreiben habe. Sie rebelliert, wird unangepasst. Kompromisslos und mutig tritt sie für Meinungsfreiheit ein, auch als Frau für ihre sexuelle Selbstbestimmung, und gilt somit als Vertreterin des Feminismus in der DDR.

Weitere Werke (Auswahl)

Zu Lebzeiten:

• 1961: Ankunft im Alltag (Erzählung)
• 1963: Die Geschwister (Erzählung)
• 1965: Das grüne Licht der Steppen (Tagebuch einer Sibirienreise)

Postum veröffentlicht:

• 1974: Franziska Linkerhand. (Roman, unvollendet)
• 1983: Brigitte Reimann in ihren Tagebüchern und Briefen. Eine Auswahl.
• 1993: Sei gegrüßt und lebe. (Briefwechsel 1964 bis 1973 mit Christa Wolf)
• 1997: Ich bedaure nichts. (Tagebücher 1955 bis 1963)
• 1998: Alles schmeckt nach Abschied. (Tagebücher 1964 bis 1970)
• 1998: Franziska Linkerhand. (Roman, vollständige Ausgabe nach dem überlieferten Typoskript)
• 2003: Das Mädchen auf der Lotosblume. (Zwei unvollendete Romane)
• 2022: Die Denunziantin. Aisthesis, Bielefeld 2022
• 2023: Die Geschwister. Aufbau Verlage Neufassung

Auszeichnungen und Ehrungen (Auszug)

• 1960 2. Preis in der Nationalen Runde des Internationalen Hörspielpreises der Rundfunkanstalten von Tschechoslowakei, Ungarn, Polen und der DDR
• 1961 Kunstpreis des FDGB für Literatur
• 1962 Kunstpreis des FDGB für Ankunft im Alltag
• 1965 Heinrich-Mann-Preis für Die Geschwister

Persönliche Auseinandersetzung mit dem Buch

Ich habe das Buch vor 38 Jahren mit einem Kommilitonen auf dem Campus zum ersten Mal gelesen. Mit 18 war ich noch auf der Suche nach meinem Weg, aber meine innere Skepsis dem Staat gegenüber war groß. Das, was Brigitte Reimann 1963 beschrieb, diese innere Zerrissenheit des Landes, war mit den Jahren nur stärker geworden. Für mich war es unverständlich, wie ein so kontroverses Buch durch die Zensur kommen konnte. Immer hatte ich das Gefühl, etwas Verbotenes zu lesen. Vor allem das Ende enthielt viel Raum für Spekulationen.
»Die Geschwister« und ihre »Tagebücher und Briefe« haben mir für viele Dinge die Augen geöffnet, ich hörte anders, genauer hin. Nur ein Jahr später sollte ich den gleichen Querelen des Staates ausgesetzt sein wie Uli. Wer nicht linientreu war, wurde aufs Abstellgleis verfrachtet, bespitzelt, unter Druck gesetzt. 4 Jahre später bin ich nach einen gescheiterten Versuch geflüchtet, nichtsahnend, dass die DDR kurz darauf zusammenbrechen sollte.
Das Buch jetzt erneut zu lesen, hat viel in mir aufgewühlt. Ich habe heute eine andere, differenziertere Sicht auf die Geschichte. Was mir damals wie eine linientreue Autorin vorkam, die sich in Elisabeth verkörperte, kann ich heute ein Stück weit besser verstehen. Vielleicht hätte auch ich Anfang der 60er anders, ähnlich wie Elisabeth, gedacht. Reimanns Ideale wurden über die Jahre zu Zweifeln, mit vielem hat sie gehadert, aber nie kampflos aufgegeben. Das wurde mir vor allem deutlich, als ich kurz darauf ihre Briefe und Tagebücher gelesen habe.
Für mich war Brigitte Reimann eine Wegbegleiterin durch meine Jugend, die mit ihren Büchern mein Denken geprägt hat, die mir beigebracht hat zu reflektieren.

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Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger

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