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»Le Case ist wie ein Schauspiel, das nur für uns aufgeführt wird.« S.300
Im Hinterland der toskanischen Maremma liegt ein uraltes Dorf, das nicht mal einen eigenen Namen verdient hat, das man nur »die Häuser« nennt. »Le Case« ist direkt in die Flanken des Bergs gehauen, rau und archaisch, genau wie sein Bewohner. (Im Original »Le Case del Malcontento«, die Häuser der Unzufriedenheit – und das trifft es genau.)
Ein Ort, der von der Außenwelt gern übersehen und vergessen wird und diesem Ort gibt Naspini eine Stimme, indem er die Bewohner zu Wort kommen lässt. Auslöser dafür ist die Rückkehr von Samuele Radi, der unter Verdacht steht, etwas Schreckliches getan zu haben. Doch dieser Verdacht wabert durch über 500 Seiten wie ein Gespenst, lebt nur durch Andeutungen und vermeintliche Wahrheiten. Bis hin zum fulminanten Ende, das einem Bergrutsch gleichkommt.
Le Case ist die Summe vieler kleiner Geschichten, die Naspini wie ein feines Gespinst miteinander verknüpft, indem er von Haus zu Haus zieht und für uns die Türen öffnet. Geschichten über Missbrauch und Gewalt, Lügen und Wahnsinn, Geiz und Gier. Hoffnungen flammen auf und enden in tödlichen Kurven, ein Hotel, in dem sich mehr Ehebrecher*innen vergnügen als Touristen, ein Lottoschein, der nicht das erhoffte Glück zu bringen vermag, Geheimnisse hinter verborgenen Türen, die tief in den Fels hineinführen, Verschwundene, die nicht verschwunden sind, Tote, die nicht tot sind.
»Le Case existiert nur aus einem Grund: damit man so schnell wie möglich von hier abhaut.« S.535
Das hab ich mir beim Lesen manchmal gedacht, aber das Buch ist wie ein Unfall, man muss einfach hinschauen, weiterlesen, den Kopf schütteln, entsetzt sein.
Le Case aber ist der eigentliche Protagonist, der sich an der Einsamkeit und Bösartigkeit seiner Bewohner nährt, ein verkommener Ort, verlogen, durchtrieben, eine Brutstätte der niederen Instinkte. Die Grausamkeit hinter den Türen lässt sich an manchen Stellen nur schwer ertragen. Le Case ist eine einzige große Lüge, die in sich selbst zusammenzufallen droht. Und wir sind die Zuschauer und sollten nicht alles glauben, was uns erzählt wird.
»Die Wahrheit ist, dass es in Le Case Dinge gibt, die einen auch nach sechzig Jahre einholen können. Sie sind vor deiner Zeit entstanden und halten jeder Witterung stand, um im richtigen Moment vor deiner Nase hochzugehen. Le Case ist ein Ort voller Minen, die größte bleibt das madige Hirn derjenigen, die hier leben.« S.194
Naspini gelingt hier ein sehr außergewöhnlicher, polyphoner Roman, der sich in kein Genre pressen lässt, deren einzelnen Kapitel allein genug Substanz für einen eigenen Roman hätten, der die Neugier bedient, der mit den Erwartungen spielt und auf jeder Seite Überraschungen parat hält.
Letztlich ist es die Geschichte des Lebens, in dem Licht und Schatten, Gut und Böse nebeneinander existieren. Ein Buch, das vom Zittern des Berges erschüttert wird, die Grausamkeit der menschlichen Natur offenbart, die sich aus dem Trott der immergleichen Tage schält. Doch letztlich bahnt sich die Wahrheit ihren Weg, egal, hinter welchen Türen man sie versteckt hat.
Vielleicht braucht man für das Buch etwas Durchhaltevermögen, denn 80 Jahre durch die Zeit zu springen verlangt etwas Konzentration, doch am Ende lohnt es sich. Eine Empfehlung an alle, die vielschichtige Erzählweisen abseits des Mainstream lieben, eine gehörige Portion schwarzen Humor vertragen und sich von menschlichen Abgründen nicht abschrecken lassen.
Ich hoffe sehr, dass weitere Bücher von ihm ins Deutsche übersetzt werden, denn seine Art, Geschichten zu erzählen, haben etwas sehr Eigenwillige, das mich jedes Mal aufs Neue fasziniert.
»Le Case ist der Baum. Die Angelegenheiten der Leute, die hier wohnen, sind seine faulen Früchte … Der Charakter der Leute ist der Charakter dieses Monsters, das ab und zu ein Zittern durchfährt, und dann sehen wir, wie die Vorhänge schwingen und die Figürchen auf der Kommode von selbst anfangen zu laufen. Einen Moment lang befinden wir uns in einer Art Ohnmacht. Es tut das nur, um uns aus dem Gleichgewicht zu bringen. Und um uns zu sagen, dass wir ihm mehr gehören als uns selbst. Wer rechtzeitig verschwindet, rettet sich. Diejenigen, die auf die Höhen zurückkommen, sind halb verrückt. Oder sie sind Bestien, die Ruhe suchen …« S.198
Klappentext
Im rauen Herzen der Maremma liegt ein alter, in Felsen gehauener Ort, Le Case genannt. Es ist ein aussterbendes Dorf, ein Provinznest, in dem sich die Bewohner in einem Fluss öder Tage dahinschleppen – bis ihre Gemeinschaft durch die Ankunft von Samuele Radi aufgerüttelt wird, der in Le Case geboren und aufgewachsen ist, aber den Absprung geschafft hat. Seine Rückkehr haucht alten Geheimnissen und Animositäten neues Leben ein Samueles heimliche Liebesbeziehung zu Eleanora, die neu im Dorf ist, macht die Sache auch nicht einfacher. Mit seiner literarischen, schwarzhumorigen und vielperspektivischen Erzählweise schafft Sacha Naspini einen kraftvollen Roman, der mit den Genres spielt und Noir, Psychothriller und Liebesgeschichte mischt. Seine raffinierte Struktur und die unvergesslichen Charaktere machen den Roman zu einem psychologischen Meisterwerk und einer scharfsinnigen Analyse der menschlichen Abgründe.
Bibliografische Angaben
ISBN: 978-3-0369-5014-3
Verlag: Kein & Aber
Erscheinungsjahr: 12. April 2024
Übersetzung: Henrieke Markert und Mirjam Bitter
Seiten: 576, Hardcover
Über den Autor
Sacha Naspini, geboren 1976 in Grosseto, lebt heute in Follonica. Er ist Drehbuchautor, schreibt für La Repubblica und arbeitet als Lektor und Artdirector mit verschiedenen Verlagshäusern zusammen. Er hat bereits mehrere Romane veröffentlicht, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Auf Deutsch bei Kein & Aber erschienen sind »Nives und ihre Männer« und »Hinter verschlossenen Türen«.
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