Was hat ein hinkendes Huhn mit einem Telefonat über Lügen und Verrat zu tun?
Nives Mann Anteo trifft der Schlag und landet tot im Schweinetrog. Das Schwein knabbert dessen Ohr an und wird anschließend von Nives zur Strafe erschossen. Nach ein paar Tagen Einsamkeit holt sich Nives das Huhn Giacomina ins Haus und stellt fest, dass sie ihr Leben ebenso gut mit einer Henne hätte teilen können, denn Anteo vermisst sie überhaupt nicht.
„Mit Giacomina an ihrer Seite vermisste sie nichts von ihrem Mann. Es befiel sie eine Niedergeschlagenheit, mit der sie nichts anzufangen wusste, und sie sagte sich: ‚Ich hab mein Leben für einen gegeben, den ich hätte durch ein Huhn ersetzen können.‘ Sie fühlte sich schmuddelig. Aber auch vergeudet.“
Doch eines Tages starrt Giacomina wie gebannt ins Fernsehen, wo gerade eine Waschmittelwerbung läuft. Beim Anblick der sich drehenden Waschmaschinentrommel erstarrt das Huhn und kommt nicht mehr zu sich.
Soweit so gut. Bis zu dieser Stelle dachte ich, eine skurrile Geschichte zu lesen, die mir mit dem typischen italienischen Humor einige Lacher beschert hat. Einfach nur köstlich. Aber dann! Und das meine ich positiv.
Naspini krempelt die ganze Geschichte um, alles läuft in eine Richtung, die absolut nicht zu erwarten war. Nives ruft in ihrer Not den Tierarzt Loriano Bottai an. Der Verlauf des Gesprächs nimmt einige raffinierte Wendungen, die eines Krimis würdig sind.
„Bottai verspürte einen leichten Druck auf der Brust. ‚Die Vergangenheit ist voller Gespenster. Für alle. So ist es, und so wird es immer sein. Heute Abend über die Zeit vor dreißig Jahren zu reden, bringt gar nichts.‘“ S.85
Hier wird die Vergangenheit aufgewühlt, Liebschaften und sexuelle Abenteuer seziert, jahrzehntelange Geheimnisse kommen ans Licht – eine Geschichte von Liebe und Verrat. Nicht minder skurril und verworren. Wohlgemerkt alles in einem stundenlangen Telefonat.
Nichts davon war für mich aus dem Klappentext herauszulesen und das hat zu einer Überraschung der besonderen Art geführt. Deshalb werde ich auch kein weiteres Wort über den darauffolgenden Inhalt verraten.
Für mich war das Besondere an dem Buch, dass sich hinter dem Humor viele ernsthafte Themen verstecken, die sich erst nach und nach an die Oberfläche schleichen. Zum einen die Einsamkeit, die sich nach dem Tod eines Partners breitmacht, die einen schier lähmt. Trauer, die nicht aufkommen will, Verletzungen in der Vergangenheit, die nicht verheilen wollen. Nicht zuletzt die Frage, „was ein Leben ausmacht – die verpassten oder gelebten Chancen“. Mit Naspinis einzigartigen Erzählstruktur gelang es ihm, dass ich mich ganz in die Charaktere hineinversetzen konnte, ihre Enttäuschungen, ihre Wut und Rachegelüste förmlich gespürt habe. Letztlich habe ich dadurch die fehlende Handlung an keiner Stelle vermisst.
Gleichzeitig birgt diese Form, alles in ein Telefonat zu packen, auch eine Gefahr. Es gibt keine Kapitel, die mich als Leser mal hätten Luft holen lassen. Ein Wort ergibt das andere und man muss ständig dranbleiben. Mit nur 158 Seiten lässt sich das Buch aber auch prima in einem Rutsch durchlesen.
Leider fand ich zu dem Buch nur wenige spärliche Rezensionen, schade, denn ich denke, es hat viel mehr Aufmerksamkeit verdient. Ich möchte das Buch jedem ans Herz legen, der einen Sinn für guten Humor hat, tiefe Charaktere liebt und bereit ist und außerhalb des Mainstream überrascht werden will.
Klappentext
Nives hat kürzlich ihren Mann verloren, nach langjähriger Ehe. Zuerst gefasst, bald aber einsam auf ihrem Hof, beschließt sie, ihr Lieblingshuhn Giacomina ins Haus zu holen, und muss erstaunt feststellen, wie gut ihr diese Gesellschaft tut. Als Giacomina sich eines Abends plötzlich nicht mehr bewegt, weil sie zu lange auf die Waschmaschinenwerbung gestarrt hat, gerät Nives in Panik: Sie ruft Loriano Bottai an, den befreundeten Tierarzt, den sie wie alle anderen Dorfbewohner seit Jahrzehnten kennt. Was folgt, ist ein Gespräch, das wiederholt unerwartete Wendungen nimmt, Unausgesprochenes entlarvt, Beziehungsgeflechte offenlegt, in die Abgründe einer verpassten Liebe blicken lässt und schlussendlich die Frage stellt, was ein Leben eigentlich ausmacht – die verpassten oder die gelebten Chancen?
Bibliografische Angaben
ISBN: 978-3-0369-5891-0
Verlag: Kein & Aber Verlag
Erscheinungsjahr: 13. Oktober 2022
Übersetzung: Walter Kögler
Seiten: 158, Hardcover
Über den Autor
Sacha Naspini, geboren 1976 in Grosseto, lebt heute in Follonica. Er ist Drehbuchautor, schreibt für La Repubblica und arbeitet als Lektor und Artdirector mit verschiedenen Verlagshäusern zusammen. Er hat bereits mehrere Romane veröffentlicht, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Nives ist sein erstes Buch, das auf Deutsch erscheint.
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