Werbung, ich bedanke mich bei der Autorin für das Rezensionsexemplar.
»Normalerweise lüge ich die Menschen um mich herum an, weil sich mein Leben nach Nichts anfühlt und sich das Nichts nicht erzählen lässt.« S.120
Sara Becker ist Psychotherapeutin und ihr Leben entgleitet ihr in dem Moment, als sie vom Suizid ihres Patienten Herrn Mangold erfährt. Sie trifft keine Schuld, doch was für alle anderen nur bedauerlich zu sein scheint, stürzt sie in eine tiefe Sinnkrise. Ausgerechnet Mangold, der ein langweiliger Mensch war, der »seine Unscheinbarkeit bis zur Perfektion exponiert hatte«. Ist auch ihr Leben belanglos? Nur eine Aneinanderreihung von unwichtigen Ereignissen?
Sara gelingt es nicht, loszulassen, alles in ihrem Leben scheint ungewollt, sinnlos. Genauso wie der Umzug zu ihrem Freund. Ist es überhaupt ihr Leben?
»… und wieder fiel mir auf, wie unbarmherzig die Zeit einen durchs Leben scheuchte. Ich konnte sie hören, die Zeit, ihre Stimme drang in meine Ohren. Los jetzt, ein Kind, zwei Kinder, drei. Heiraten, erwachsen werden, du bist schon über dreißig, viel Zeit bleibt dir nicht mehr, schien sie zu rufen.« S.184
Alles um Sara herum wird enger, ihr wird klar, dass sie nicht mehr einfach so weitermachen kann. Gedanklich gleitet sie immer wieder zurück in die Vergangenheit – in ihr Elternhaus, wo es immer so still war, wo man den Schein wahrte, zurück zu Yannick, ihrem ersten Freund. Es wirkt fast so, als suche sie nach dem Punkt in ihrem Leben, an dem sie falsch abgebogen sei.
Realität und Fiktion verschwimmen zunehmend, als sie Nikto begegnet, die offenbar alles von ihr weiß.
Ich habe beim Lesen lange nach einer Handlung, einem roten Faden gesucht, bis ich verstanden habe, dass ich Saras Gedankenkarussell folgen soll. Nachfühlen, nachspüren. Dieser Moment, der plötzlich alles infrage stellt, der den Boden unter den Füßen wegzieht. Wie kann es sein, dass der Tod eines Menschen in allen nur ein kurzzeitiges Mitgefühl auslöst, die Welt sich aber weiterdreht und das eigene Leben aus der Verankerung reißt?
»Da ist dieser Drang bei den Menschen, alles zu verstehen, alles klassifizieren zu wollen – aber das lähmt nur, das schläfert das Gehirn ein.« S.196
Es ist, als suche Sara nach Halt, findet keinen und gleitet immer tiefer in einen Strudel aus Zweifeln und Angst. Es ist ein Buch, auf das man sich einlassen muss, Saras Gedankenwelt, die letztlich aus mehr Fragen als Antworten besteht, das keiner Logik folgt und bis ins Surreale driftet, Gedanken, die repetitiv an Mauern stoßen.
Berthe Obermanns gelingt es, eine tiefe innere Auseinandersetzung mit dem Sinn des Daseins spürbar in ganz eigene Worte zu fassen. Sie zeigt, dass dies auch mit einem inneren Diskurs über den eigenen Tod einhergeht – oft ein Tabu-Thema, über das wir nicht gern nachdenken.
Es ist kein Buch, das man eben mal so wegliest, denn immer wieder fand ich Parallelen zu meinem eigenen Leben, zu Fragen, die auch ich mir an manchen Wendepunkten meines Lebens gestellt habe. Fragen, die nicht immer Antworten haben. Aber manchmal nur eine Lösung zulassen.
Sprachlich habe ich die Autorin wiedergefunden, klar, präzise, auf einem hohen Niveau. Ihre Fragestellungen und Essenzen haben mich oft innehalten und reflektieren lassen. Zudem arbeitet sie mit vielen Symbolen und Elementen, die wie ein Anker wirken und letztlich für mich zu etwas wie dem anfangs vermissten rote Faden wurden.
Sie schafft eine zunehmend beklemmende, düstere Atmosphäre, die einen mitzureißen droht und in einem dramatischen Ende gipfelt.
Klappentext
Es hätte ein gewöhnlicher Tag für Sara Becker werden können – wäre da nicht die Nachricht vom Suizid Martin Mangolds gewesen. Die junge Psychotherapeutin trifft keine Schuld am Tod ihres Patienten. Und dennoch ist mit einem Mal nichts mehr, wie es war. Sara fühlt sich fremd in den Sitzungen mit ihren Patienten, fremd in ihrer Beziehung und fremd an ihrem Wohnort, der sie mehr und mehr an ihre Kindheit erinnert. Doch nicht nur das: Plötzlich scheint der Tod hinter allen Personen zu stehen, denen sie begegnet. Vor allem aber hinter ihr selbst. Sara stellt ihr bisheriges Leben zunehmend in Frage, die Welt um sie wird enger und enger – bis eines Tages eine junge Frau auftaucht, die sich als Nikto vorstellt. Was zunächst wie eine zufällige Begegnung wirkt, ist in Wahrheit viel mehr. Denn Nikto hat nicht nur Martin Mangold gekannt, sie weiß auch alles über Saras Leben und ihre Vergangenheit. Wer ist diese Frau? Wie kann es sein, dass sie einen inneren Raum in Sara öffnet, von dem sie glaubte, er sei längst verschlossen? Sara stürzt ins Bodenlose.
Mit einem sicheren Gespür für Zwischentöne erzählt Berthe Obermanns von den Ängsten und Unsicherheiten, die das Menschsein mit sich bringt, vor allem aber von der Kraft, die zum Vorschein kommt, wenn es gelingt, sich von ihnen zu befreien. Ein verblüffender, ein aufwühlender Roman über das Nebeneinander von Lüge und Wahrheit, von Traum und Realität, von Enge und Ausbruch. Über Leerstellen in uns selbst, die es zu erkunden gilt. Über den Versuch, sich im Erinnern dem eigenen Leben zu stellen.
Bibliografische Angaben
ISBN: 978-3-95510-331-6
Verlag: Osburg Verlag
Erscheinungsjahr: 29. August 2023
Seiten: 250, Hardcover
Über die Autorin
Berthe Obermanns, geboren 1986, studierte Jura in Konstanz. Als Rechtsanwältin im Straf- und Migrationsrecht arbeitete sie unter anderem in Berlin. Dabei interessiert sie sich in erster Linie für die Menschen hinter den Fällen und deren Geschichten. Sie schreibt über das Gute und Böse in jedem von uns, über menschliche Schicksale und die Ambivalenzen des Lebens. Berthe Obermanns lebt und arbeitet heute in Karlsruhe. Ihr Debütroman »Gleich unter der Haut« erschien 2022 im Osburg Verlag.
Herzlich bedanken möchte ich mich nochmals bei Berthe, dass sie für ein Interview zur Verfügung stand, das hier nachzulesen ist.
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