GLEICH UNTER DER HAUT – Berthe Obermanns

»Und was wünscht du dir vom Leben?«, frage ich.
»Weiß nicht. Tot sein vielleicht«, antwortet sie, und ihre Stimme wird mit jedem Wort leiser.
S.88

Es gibt Bücher, da weiß ich nach nur wenigen Absätzen, dass sie mich ganz tief in meinem Inneren treffen werden. Ich schalte runter in den ersten Gang, lese keine Sätze, sondern lese jedes einzelne Wort, weil es genau an der Stelle steht, wo es hingehört. Und dieses Buch hat mich in meinen Sessel gepresst, hat von mir verlangt, jedes einzelne Wort zu spüren.
Ein schonungsloser Angriff auf meine Seele. Ich musste mich entscheiden, lasse ich es zu, dass mich die Geschichte berührt, oder schütze ich mich? Immer wieder legte ich das Buch weg, musste durchatmen, musste mich erden. Wollte ich wirklich wissen, wie es weitergeht? Nie lag ein Buch so schwer in meiner Hand. Was bitte ist das für ein grandioses Debüt?!

Das Buch spielt im Winter in Konstanz und wer diese einheitsgrauen Tage am See kennt, weiß, was das mit einem machen kann. Wir lernen Niklas kennen, der in der Trauer um seine Eltern feststeckt und sich um seine demenzkranke Oma kümmert. Seine Last, seine Überforderung, seine Einsamkeit waren von Beginn an spürbar. In einer nebelverhangenen Nacht lernt er Lou kennen und verliebt sich in sie. Auch Lou kämpft mit ihren Dämonen, ihren Erinnerungen, die sie aber mit Niklas nicht teilen möchte. Zwei einsame, verletze Seelen, traumatisiert, in sich selbst gefangen. Können sie sich Halt geben? Niklas Schwester, die ihre Trauer unter Essstörungen begräbt, warnt ihn, dass Lou ihm nicht guttut.

Die moderne griechische Tragödie: die Suche nach dem Sinn des Lebens, die allgegenwärtige Todessehnsucht, Ausweglosigkeit, die auf eine unausweichliche Katastrophe zusteuert. Berthe Obermanns packt hier alles rein, Missbrauch, Selbstverletzung, nicht bewältigte Trauer, Verlust, Trauma, etc. Viel. Zu viel, dass man Niklas und Lou gern etwas davon abnehmen möchte.

Das Buch hat mich an schwere Zeiten in meinem Leben erinnert und noch jetzt beim Schreiben der Rezension habe ich einen Kloß im Hals und einen Knoten im Magen. Ja, das Buch ist schwere Kost und sicher nicht für jeden geeignet. Aber genauso fühlt es sich an, wenn die Welle über einem zusammenbricht. Wenn man sich zu jemanden hingezogen fühlt, aber immer wieder die Flucht ergreift, wenn Erinnerungen unaushaltbar sind, dass man die Flucht vor sich selbst ergreift.
Die Autorin hat hier sehr lebensnahe, tiefe ProtagonistInnen geschaffen, denen ich jedes Wort, jeden Gedanken abgenommen habe, deren Leid und Verzweiflung mich zutiefst berührt und zu Tränen gerührt haben. Sprachlich war das Buch aufs Wesentliche reduziert, was die Geschichte genaustens reflektiert hat, absolut perfekt. Ich habe lange nichts so gelungenes gelesen, kann es eigentlich kaum glauben, dass es ein Debüt ist. Muss ich noch sagen, dass ich dieses Highlight jedem ans Herz lege, der sich der Thematik gewachsen sieht?

Liebe Berthe, ich ziehe meinen Hut vor dir, das war ganz großes Kino. Das Buch ist jetzt voller Post-Its, denn mit deinen Worten hast du mir aus der Seele geschrieben, Worte, die für immer einen Platz in meinem Herzen haben. Vielen Dank dafür, auch wenn ich jetzt wahrscheinlich nie mehr unbefangen über die Rheinbrücke laufen kann. Denn:

»… manchmal, in bestimmten Momenten, wünschte ich, mein Kopf würde auch eine Auswahl treffen, aussortieren, einen festen Kokon um all die Gedanken und Erinnerungen spinnen, die ich nicht haben möchte, sie darin festzurren, ihnen jede Bewegungsmöglichkeit nehmen. Aber er tut es nicht, mein Kopf, so sehr ich mich auch bemühe, er vergisst nicht.« S.77

Und noch ein Zitat, das für immer bleibt:
Wenn es am Ende keine Erinnerungen gibt oder nur schlechte, gab es kein Leben.“ S.64

Klappentext

»Ich weiß manchmal nicht, ob ich die Person im Spiegel bin oder die davor und ob das überhaupt einen Unterschied macht«, sagt die dreiundzwanzigjährige Lou über sich selbst. Niklas fühlt sich von der ungewöhnlichen Frau angezogen. In den gemeinsamen Momenten lässt sie ihn sogar die Trauer um seine verstorbenen Eltern, die Eintönigkeit seines Alltags und die Pflege seiner demenzkranken Großmutter für Augenblicke vergessen. Doch Lou hat etwas zu verbergen. Warum verschwindet sie immer wieder, verändert von einem Moment auf den anderen ihre Stimme und ihren Charakter, was hat es mit ihren Erinnerungslücken auf sich? Und vor allem: Ist sie tatsächlich die Frau, die sie vorgibt zu sein? Niklas bittet Lou, ihm ihre Geschichte zu erzählen, aber seine Freundin schweigt, findet keine Worte für das Unaussprechliche. Und so sehr die beiden auch auf eine gemeinsame, eine bessere Zukunft hoffen: Die Erlebnisse der Vergangenheit lassen sich nicht ausradieren. »Irgendwann kommt der Punkt, an dem sich die Realität durch die Gedanken an den Tod verändert«, sagt Lou. Und ja, er kommt, der Punkt, und mit einem Mal scheint es nur noch einen einzigen Ausweg zu geben.
›Gleich unter der Haut erzählt die Geschichte zweier junger Menschen, die den Wunsch teilen, endlich alles hinter sich zu lassen. Ein Roman über das Ungesagte, das sie in ihrem Innern gefangen hält. Über das, was man nicht sehen möchte. Ein Roman, der seine Leser*innen miterleben lässt, wie schnell die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen und jeder Einzelne durch die äußeren Umstände zum Mörder werden kann.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-95510-291-3
Verlag: Osburg Verlag
Erscheinungsjahr: August 2022
Seiten: 260, Hardcover

Über die Autorin

Berthe Obermanns, geboren 1986, studierte Jura in Konstanz. Als Rechtsanwältin im Straf- und Migrationsrecht arbeitete sie unter anderem in Berlin. Dabei interessiert sie sich in erster Linie für die Menschen hinter den Fällen und deren Geschichten. Sie schreibt über das Gute und Böse in jedem von uns, über menschliche Schicksale und die Ambivalenzen des Lebens. Berthe Obermanns lebt und arbeitet heute in Karlsruhe. ›Gleich unter der Haut‹ ist ihr Debütroman.
Im August 2023 erscheint ihr neuer Roman ›Und hinter mir das Nichts‹.

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Über ein.lesewesen 273 Artikel
Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger

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