ROMEO UND JULIA IN VIGATA – Andrea Camilleri

Mein Vorrat an ungelesenen Camilleri-Büchern geht langsam zur Neige, umso langsamer lese ich, denn es könnte mir ja ein Wort entgehen.
Diesmal sind es 8 Kurzgeschichten, in denen uns der italienische Meister von 1890 bis in die Mitte des 20. Jh. durch sein fiktives Örtchen Vigata auf einen Spaziergang mitnimmt. Ein Zeitabschnitt, in dem viele seiner Bücher spielen, der ihm wohl sehr am Herzen gelegen hat. Vielleicht spielt aber die Zeit auch gar keine Rolle, denn allzu viel tut sich nicht in dem kleinen, fiktiven sizilianischen Örtchen, das seiner Geburtsstadt Porto Empedolce nachempfunden ist.

In der titelgebenden Geschichte wird das 1899 das neue Jahrhundert mit einem Maskenball eingeläutet, was schon im Vorfeld für viel Wirbel sorgt. Aber die beiden verfeindeten Familien wollen in der Nacht ihren Zwist ruhen lassen. Klar dass sich die Kinder Manueli und Mariarosa ineinander verlieben. Manueli lässt seine Angebetete entführen, leider nimmt sein überhasteter Plan einen anderen Ausgang.

Dann erleben wir den Wettstreit zweier Eisverkäufer am Strand von Vigata, der viel Einfallsreichtum hervorbringt und zu einer Volksabstimmung führt und zur Erfindung der Eiswaffel. Ein Esel namens Mussolini und ein paar Schuhe spielen eine Rolle in der einer anderen Geschichte, oder eine falsche Madonna, die den Männern den Kopf verdreht. Ja, ewig lockt das Weib, und das nicht nur in einer Geschichte.
Am besten hat mir »Die Königin von Pommern« gefallen. Keiner in Vigata hat bisher etwas von dem Königreich Pommern gehört, doch alle wittern das große Geschäft, das ihnen vom Marchese versprochen wird. Der Exportschlager sind Hunde, allerdings müssen alle zusammen abgenommen werden. Nun ja, es sind nur 3550 Pommersche Spitze.

Camilleri präsentiert uns die Vigatesi, wie sie sind, verhaftet in ihren Traditionen und Werten, manchmal etwas einfältig und abergläubisch. Klatsch und Tratsch, Eifersucht und Rache und nicht zuletzt die Liebe bringen ihr Blut in Wallung und Abwechslung in den gewöhnlichen Alltag. Man kann über sie schmunzeln, über ihren menschlichen Schwächen, ihren Einfallsreichtum oder ihren Schatten, über den sie nicht springen können. Camilleri zeichnet es wie immer gekonnt mit feinen Pinselstrichen und gelegentlichen Übertreibungen. Für Camilleri-Leser ist es ein bisschen wie heimkommen, man kennt die Vigatesi ja inzwischen mit all ihren Marotten, die sie so liebenswert machen.
Die Geschichten sind eine bizarre Mischung aus Komödie und Drama und es zeigt sich einmal mehr, welch guter Menschenbeobachter Camilleri war. Ohne zu bewerten oder zu moralisieren, richtet er seinen Blick auf die kollektiven Verhaltensweisen und gibt den Menschen seiner Heimat eine Bühne. Ich denke, hier spüren wir viel von dem leidenschaftlichen Theaterregisseur, der er war. Erzählt mit viel Humor, Charme und spitzer Zunge. Er hangelt sich über moralische Untiefen, schaut tief in die Seele, denn er kennt sie, die Schwächen und Nöte seiner Landsleute und spart auch nicht mit Gesellschaftskritik.

Klappentext

Ein Esel namens Mussolini, ein heiratsunwilliger Marchese, Konsuln, die mit Pommerschen Hunden handeln: Vigata, die Heimat von Commissario Montalbano in Italien, hat eine so bewegte wie kuriose Vergangenheit. Von ihr erzählt Camilleri mit viel Humor in liebevollen Geschichten, etwa vom provisorischen »Königreich von Pommern«, das plötzlich im Nichts verschwindet, oder von der Konkurrenz zweier Eisverkäufer, deren erbitterter Kampf mit vorzeitlichen Werbeaktionen zur Erfindung der Eiswaffel führt. Camilleris Auge ist untrüglich: Er sieht die Menschen, wie sie sind, mit ihren Tugenden und Lastern, mit ihrer Scheinheiligkeit, in der ganzen Spannweite ihrer tragischen Komödie.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-312-00647-2
Verlag: Nagel & Kimche
Erscheinungsjahr: 2015
Übersetzung: Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
Seiten: 236, Hardcover

Über den Autor

Andrea Camilleri (1925–2019), in dem sizilianischen Küstenstädtchen Porto Empedocle (Provinz Agrigento) geboren, war Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur sowie langjähriger Dozent an der Accademia d’arte drammatica Silvio D’Amico in Rom. In seinem umfassenden literarischen Werk setzte er sich vornehmlich mit seiner Heimat Sizilien auseinander. Seine Romane um den beliebten Kommissar Salvo Montalbano wurden international zu Bestsellern, und seine Hauptfigur gilt weltweit als Inbegriff für sizilianische Lebensart, einfallsreiche Kriminalistik und südländischen Charme und Humor.

Kein anderer vermag es, die italienische bzw. sizilianische Seele einzufangen wie Camilleri. Er galt als kritische Stimme Italiens, scheute sich nie heikle politische und gesellschaftliche Themen anzusprechen wie Korruption, und das organisierte Verbrechen. Nicht selten bekommt es auch sein Kommissar mit der allmächtigen Mafia als Gegner zu tun und zögert nie, sich ihr entgegenzustellen. Camilleri, immer besonnen und ruhig, scheute sich auch nicht davor, sich mit dem Innenminister Salvini anzulegen.
Zeit seines Lebens hatte ein Herz für die einfachen Menschen und ist vor allem ein großer Genießer der sizilianischen Küche, was sich in Montalbano widerspiegelt.
Über 100 Bücher hat Camilleri geschrieben, allein in Italien wurden seine Bücher mehr als 20 Millionen Mal verkauft, außerdem wurden sie in etwa 30 Sprachen übersetzt. Etliche Romane wurden verfilmt.
In seinem Testament hat er verfügt, dass ein Montalbano-Krimi, den er bereits vor 20 Jahren geschrieben hat, erst postum veröffentlicht werden darf. Wir dürfen also gespannt sein.
Nach Umberto Eco ist mit Andrea Camilleri einer der größten Literaten Italiens gestorben.

Weitere Romane von Andrea Camilleri

• Hahn im Korb (1978)
• Das launische Eiland (1980)
• Eine Sache der Ehre (2 Geschichten) (1984, 1993)
• Jagdsaison (1992)
• Fliegenspiel (1995)
• Die sizilianische Oper (1995)
• Der unschickliche Antrag (1998)
• Die Mühlen des Herrn (1999)
• Der zweite Kuss des Judas (2000)
• Der vertauschte Sohn (2000)
• Neuigkeiten aus dem Paradies (2001)
• König Zosimo (2001)
• Die Ermittlungen des Commissario Collura (2002)
• Der zerbrochene Himmel (2003)
• Der Märtyrer im schwarzen Hemd (2005)
• Das Medaillon (2005)
• Die Pension Eva (2006)
• Der verliebte Teufel / Der verführerische Teufel (2006)
• Die Farbe der Sonne (2007)
• M wie Mafia (2007)
• Das graue Kleid (2008)
• Der geraubte Himmel (2009)
• Was ist ein Italiener? (2009)
• Die drei Leben des Michele Sparacino (2009)
• Das Netz der großen Fische (2009)
• Ein Samstag unter Freunden (2009)
• Streng vertraulich (2010)
• Die Münze von Akragas (2010)
• Die Sekte der Engel (2011)
• Romeo und Julia in Vigata (2012)
• Die Revolution des Mondes (2013)
• Mein Ein und Alles (2013)
• Aussetzer (2014)
• Frauen (2014)
• Die Verlockung (2014)
• Jagd nach einem Schatten (2014)
• Die Inschrift (2015)
• Gewisse Momente (2015)
Berühre mich nicht (2016)
Brief an Matilda. Ein italienisches Leben (2018)
• Kilometer 123 (2019)

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Über ein.lesewesen 314 Artikel
Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger

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