Werbung, ich bedanke mich beim Dumont Buchverlag für das Rezensionsexemplar.
Wenn du bereit bist, deine Zelte in einer öden Provinz von Maine aufzuschlagen, deine Abende im Empire Grill verbringen willst, um gewöhnliche Menschen zu beobachten, dann solltest du das Buch lesen. Denn es wird nicht viel passieren auf den 750 Seiten, keine Action, kein Abenteuer, kein Held wird über sich hinauswachsen. Aber am Ende gehts dir vielleicht wie mir und du würdest gern wiederkommen in die Stadt, in der die Träume wie Treibgut am Flussufer hängen bleiben.
Empire Falls hat seine Blütezeit hinter sich, die Papierfabrik ist geschlossen. C.B. Whiting, der letzte Nachfahre des Familienimperiums, hat es vorgezogen, seine Frau Francine mit Tochter Cindy zurückzulassen und in Mexiko Gedichte zu schreiben. Jahre später, nach seinem Tod, gehört Mrs Whiting noch immer der halbe Ort, auch das Diner samt Miles Roby, dem Manager.
Hoffnungen köcheln in Empire Falls auf Sparflamme, ab und zu werden sie im Empire Grill gewendet unter der steten Beobachtung der Bewohner. Da ist der verschlagene Walt, der Miles mit Ansage die Frau ausgespannt hat und ihn regelmäßig zum Armdrücken herausfordert. Miles zukünftige Ex-Frau Janine, für die ein Orgasmus Grund genug zur erneuten Heirat ist. Max, Miles’ Vater, der sich durchs Leben gaunert und nicht davor zurückschreckt, für seine Sauftouren die Trinkgeldkasse des Diners zu plündern. Und Miles schaut bei allem recht tatenlos zu, denn er muss erkennen, dass er nicht das Leben führt, dass er sich einst erhofft hatte. Er scheint irgendwo zwischen seinen Träumen und dem Verantwortungsbewusstsein festzuhängen. Seine ganze Hoffnung liegt in seiner 14-jährigen klugen, sensiblen und künstlerisch begabten Tochter Tick.
Neben den vielen tiefgründigen Charakteren, die wir durch die multiperspektivische Erzählweise erst allmählich verstehen, arbeitet Russo mit großartigen Bilder, die nicht immer gleich erkennbar sind, mit dem Fortgang der Geschichte aber mit aller Macht deutlich werden. In seinem langen Prolog sieht C.B. Whiting in dem Fluss Knox, der durch den Ort fließt und an dessen Ufer sämtlicher Müll einschließlich eines Elchkadavers angespült wird, einen Planungsfehler Gottes. Wider aller Warnungen lässt er den Fluss begradigen – weil er es kann, weil er Geld hat.
Das sagt nicht nur viel über den Ort aus, sondern wird 700 Seiten später seine Folgen präsentieren. Auch Miles ist einer der Gestrandeten, denn er hatte den Ort längst für sein Studium verlassen, als Mrs Whiting ihn „zurückbeordert“ kurz vor dem Tod seiner Mutter, um kurzfristig das Diner zu übernehmen.
Oder nehmen wir Tick, Miles’ Tochter, meine Lieblingsfigur. Wenn Russo sie mit hängenden Schultern, auf denen ihr viel zu schwerer Rucksack hängt, durch die Straße schleichen lässt, spürt man als LeserIn, dass die Erwartungen, die in sie gesetzt werden, für sie zur Last werden. Immer wieder sind es die Träume der Erwachsenen, die sie auf ihre Kinder projizieren, weil sie sie selbst nicht verwirklicht haben.
Russo hegt viel Empathie für die Menschen, die in ihrer sozialen Schicht festhängen und für die der amerikanische Traum immer ein Traum bleiben wird. Die wie Miles ein zu hohes Pflichtgefühl gegenüber ihrer Familie, ihren Freunden haben und zu viel Anstand besitzen, um sie im Stich zu lassen.
Alles treibt ruhig und gelassen dahin, bis Russo das Ende in einer Katastrophe münden lässt, die sich auf ein tatsächliches Ereignis aus dem Jahr 1999 stützt, das damals nicht nur die USA erschüttert hat. Wird das zum Weckruf für die Bewohner von Empire Falls, die samt ihrer »gottverdammten Träume« wie Treibgut am Ufer des Knox festhängen?
Alles läuft auf die Frage hinaus, wird es je einer schaffen, seinen Traum zu leben?
Klappentext
Empire Falls, eine Kleinstadt in Maine: Seit über zwanzig Jahren arbeitet Miles Roby im örtlichen Diner. Hier versammelt sich die ganze Stadt, vom Fitnessstudiobesitzer bis zum Schuldirektor. Miles selbst hat das College abgebrochen, ist geschieden und lebt in einer winzigen Wohnung über dem Restaurant. Und während er sein Bestes gibt, seiner Tochter dabei zu helfen, die Highschool zu überstehen, seinen trinkfreudigen Vater zu bändigen und dem Job im Diner gerecht zu werden, bleibt nicht viel Raum für das, was er sich vom Leben erhofft hat. Seine Verpflichtungen fesseln ihn an die Stadt, und erst als die äußeren Umstände ihn dazu zwingen, gelingt es ihm, Empire Falls zu verlassen. Er flieht mit seiner Tochter an den gemeinsamen Sehnsuchtsort Martha’s Vineyard. Seit Jahren spielt er mit dem Gedanken, sich hier niederzulassen. In ›Diese gottverdammten Träume‹ erzählt Richard Russo mit viel Wärme und Humor die Geschichte eines Mannes, der nicht der geworden ist, der er sein wollte, und zeigt das Leben in der Kleinstadt mit all seinen Absonderlichkeiten: ein Roman mit viel Gefühl für die Tragik, die im Alltäglichen liegt.
Bibliografische Angaben
ISBN: 978-3-8321-9824-4
Verlag: DuMont Buchverlag
Erscheinungsjahr: 13. Mai 2016
Übersetzung: Monika Köpfer
Seiten: 752, Hardcover
Über den Autor
Kauzige Kleinstädter und Pechvögel: Es ist der Alltag in US-amerikanischen Kleinstädten, der es Richard Russo angetan hat. Dabei schreibt kaum jemand so brillant darüber wie der 1949 in Johnstown, New York, geborene Autor.
Zunächst studierte Russo jedoch an der University of Arizona Literaturwissenschaften und Creative Writing und promovierte in Philosophie. Danach lehrte er an Universitäten. Dem Schreiben widmete er sich zu dieser zeit nur nebenbei.
Erst nach der erfolgreichen Verfilmung seines Romans „Nobody’s Fool“ (1993; deutsch: „Ein grundzufriedener Mann“, 2017) mit Paul Newman und Bruce Willis in den Hauptrollen ließ er sich als freier Schriftsteller nieder. Für „Empire Falls“ (2002; deutsch: „Diese gottverdammten Träume“, 2016) erhielt er den Pulitzer-Preis. Eine Emmy-Nominierung gab es für das gleichnamige Fernsehdrehbuch.
Es folgten der Indie Champion Award der American Booksellers Association sowie der französische Grand Prix de Littérature Américaine. In den USA ein großer Erfolg, wurden Russos Romane erst später ins Deutsche übersetzt.
Mit seinen detailreichen und humorvollen Porträts kauziger Kleinstadtbewohner an der amerikanischen Ostküste begeistert er nun auch hierzulande mehr und mehr Leser.
Heute lebt der Autor zusammen mit seiner Familie in dem Küstenstädtchen Camden in Maine. (Quelle: Lovelybooks)
Werke
Mohawk 2023 – Original 1986
Diese alte Sehnsucht 2010
Ein grundzufriedener Mann 2017
Ein Mann der Tat 2017
Immergleiche Wege 2018
Jenseits der Erwartungen 2020
Sh*tshow 2020
Mittelalte Männer 2021
Antworten