JENSEITS DER ERWARTUNGEN – Richard Russo

»Sie waren jetzt sechsundsechzig, viel zu alt, um sich einzureden, ihre Chancen stünden gut, dass sich die Welt auch nur einen Deut um ihre Hoffnungen und Träume scherte, sofern sie überhaupt noch welche hatten.« S.316

In dem dritten Roman, den ich von Russo gelesen habe, kehren wir zurück nach Martha’s Vineyard, wo sich drei Freunde nach über 40 Jahren wiedertreffen. Was ist geblieben von der Collegefreundschaft, die damals Teddy, Lincoln und Mickey aufs engste verband? Zwei Dinge schweißte sie untrennbar zusammen, die Einberufungslotterie zum Vietnamkrieg und die Liebe zu Jacy, einer Collegestudentin, die bei ihrem letzten gemeinsamen Besuch hier auf der Insel spurlos verschwand. Nun schwebt auch noch Misstrauen über der Männerfreundschaft, dass einer von ihnen mit Jacys Verschwinden etwas zu tun haben könnte.

Russo lässt uns durch die Perspektive der einzelnen Charaktere tief in deren Leben blicken, das nicht unterschiedlicher hätte sein können. Lincoln heiratete und hat inzwischen eine Schar an Enkeln, wurde ein erfolgreicher Immobilienmakler, dem aber die Finanzkrise noch zu schaffen macht. Teddy haderte immer mit seiner beruflichen Laufbahn, studierte Theologie und verlegt nun spirituelle Texte. Mickey war und bleibt der Freigeist, cruist mit 66 noch lässig auf seiner Harley durch die Gegend und steht als Altrocker auf der Bühne.

Jacys Verschwinden hätte ein gutes Krimimotiv gegeben, zumal uns auch mögliche Verdächtige präsentiert werden und ein abgehalfterter Ex-Polizist mit wilden Ideen ins Spiel eingreift.
Die unterschwellige Spannung und sein grandioses erzählerisches Talent lassen einen fast atemlos durch die Geschichte jagen und man muss aufpassen, dass man die subtil verpackte Gesellschaftskritik darin nicht überliest. Denn wer Russo kennt, weiß, dass er viel mehr zu sagen hat.

Wir schreiben das Jahr 2015, die Obamaregierung neigt sich dem Ende entgegen und Trump tönt bereits durchs Land. Auch wenn er bisher nur als Wahlplakat im Vorgarten des Nachbarn steht und sich die drei Freunde noch über ihn lustig machen.
Dass das Land bereits tief gespalten ist, weiß Russo in viele kleine Szenen zu verpacken. Sei es der gewaltbereite Nachbar oder eine »ach so christliche« Reisegruppe.

Es ist eine ganze Generation der weißen Mittelschicht, die Russo hier aufs Feinste seziert, die Erwartungen zu entsprechen hatte, die Träume hatte, Chancen genutzt aber auch vertan hat. Es geht also wieder um das, was von dem amerikanischen Traum übriggeblieben ist und die ungewisse Zukunft eines Landes, die sich zu dem Zeitpunkt nicht mal die eingefleischten Republikaner vorstellen können. Am Ende müssen alle drei die Erkenntnis verdauen, dass auch ihr Leben jenseits der Erwartungen zurückgeblieben ist.

Für mich war es Russos melancholischstes Buch, in dem noch so viel mehr steckt als in seinen »Kleinstadtromanen«. Nicht zuletzt lag es auch an der Auflösung von Jacys Verschwinden, das mich emotional sehr berührt hat.

Klappentext

An einem Spätsommertag auf Martha’s Vineyard treffen sie sich wieder: Lincoln, Teddy und Mickey. Die drei Männer planen, das Wochenende in einem Ferienhaus auf der Insel zu verbringen – um der alten Zeiten willen. Seit dem Studium zu Vietnamkriegszeiten sind sie miteinander befreundet. Sie sind sehr unterschiedliche Wege gegangen, doch alle waren sie einst in dasselbe Mädchen verliebt, Jacy Calloway.
Kurz nach ihrem Abschluss verschwand Jacy spurlos. Aber keiner von ihnen hat die Freundin vergessen – oder die Frage, wen von ihnen Jacy eigentlich liebte. Schließlich beginnt Lincoln, sich erneut mit den Umständen ihres rätselhaften Verschwindens zu beschäftigen. Was ist damals wirklich passiert?
Richard Russo erzählt von drei Menschen,
die sich fremd geworden sind, und vom Umgang mit der Unsicherheit, ob die eigenen Lebensentscheidungen die richtigen waren. Wie nebenbei ergibt sich daraus das Porträt eines Landes, das sich selbst nicht mehr ganz versteht. Mit ›Jenseits der Erwartungen‹ zeigt Russo seine ganze Könnerschaft – als großer Erzähler und als Menschenkenner.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-8321-6579-6
Verlag: Dumont Verlag
Erscheinungsjahr: Juni 2021
Übersetzung: Monika Köpfer
Seiten: 428, Taschenbuch

Über den Autor

© Elena Seibert

Kauzige Kleinstädter und Pechvögel: Es ist der Alltag in US-amerikanischen Kleinstädten, der es Richard Russo angetan hat. Dabei schreibt kaum jemand so brillant darüber wie der 1949 in Johnstown, New York, geborene Autor.
Zunächst studierte Russo jedoch an der University of Arizona Literaturwissenschaften und Creative Writing und promovierte in Philosophie. Danach lehrte er an Universitäten. Dem Schreiben widmete er sich zu dieser zeit nur nebenbei.
Erst nach der erfolgreichen Verfilmung seines Romans „Nobody’s Fool“ (1993; deutsch: „Ein grundzufriedener Mann“, 2017) mit Paul Newman und Bruce Willis in den Hauptrollen ließ er sich als freier Schriftsteller nieder. Für „Empire Falls“ (2002; deutsch: „Diese gottverdammten Träume“, 2016) erhielt er den Pulitzer-Preis. Eine Emmy-Nominierung gab es für das gleichnamige Fernsehdrehbuch.
Es folgten der Indie Champion Award der American Booksellers Association sowie der französische Grand Prix de Littérature Américaine. In den USA ein großer Erfolg, wurden Russos Romane erst später ins Deutsche übersetzt.
Mit seinen detailreichen und humorvollen Porträts kauziger Kleinstadtbewohner an der amerikanischen Ostküste begeistert er nun auch hierzulande mehr und mehr Leser.
Heute lebt der Autor zusammen mit seiner Familie in dem Küstenstädtchen Camden in Maine. (Quelle: Lovelybooks)

Werke

Diese alte Sehnsucht 2010
Diese gottverdammten Träume 2016
Ein grundzufriedener Mann 2017
Ein Mann der Tat 2017
Immergleiche Wege 2018
Mohawk 2023
Sh*tshow 2020
Mittelalte Männer 2021

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Über ein.lesewesen 273 Artikel
Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger

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