MOHAWK – Richard Russo

Werbung, danke an DuMont Buchverlag für das Rezensionsexemplar.

Manchmal frage ich mich ja, in welchem Loch ich mich in den letzten Jahren versteckt habe, um einen Autor wie Russo zu übersehen. Aber nun habe ich den Vorteil, sein erstmals auf Deutsch erschienenes Debüt von 1986 vor seinen anderen Romanen gelesen zu haben. Und dass ich sie lese, steht außer Frage.

»Der Pool, dessen Wasser mittlerweile abgelassen wurde, ist ein klaffender Betonschlund … ein paar trockene Blätter treiben raschelnd in der Nähe des Abflusses. Er sieht ihnen bei ihrem Tanz zu und wie sie an den türkisen Längsseiten des Pools entlangstreichen, ehe sie wieder zurückgleiten, um auf einen neuen Windstoß zu warten.« S.160

So ungefähr fühlt sich das Leben 1967 in Mohawk, der kleinen Stadt im Norden des Bundesstaates New York an. Bröckelnde Fassaden der mühsam vom Mund abgesparten Häuser, geschlossene Gerbereien, die einst nur wenig Wohlstand aber viele Träume in die Kleinstadt brachten. Man sieht den anderen mit neidischen oder bemitleidenden Blicken zu, gefangen im eigenen Unvermögen, ihr zu entkommen. Ein halbherziges Aufbäumen, dann lässt man sich wieder treiben – mit der Eintönigkeit, mit der Zeit, mit dem vorbestimmten Schicksal. Bis erneut ein Windstoß alles für einen Moment durcheinanderbringt.

Russo hat mich mit seiner Art zu erzählen von Anfang an begeistert, voller Witz und bitterer Ironie. Kein Wunder, wenn er einem Atemzug mit Irving genannt hat. Mit viel Liebe zum Detail entwickelt er ein kluges Gesellschaftsporträt einer Kleinstadt, die langsam verfällt. Das bisschen Aufschwung zahlen sie heute mit einer erhöhten Krebsrate. Doch die Menschen haben sich arrangiert, will man aus dem Alltag ausbrechen, geht man zum Glückspiel oder ein paar Drinks in Harrys Grill.

Dann borgte er sich von Harry einen Fünfziger und gesellte sich zu der Spielrunde im oberen Stock. Die anderen Spieler waren ausschließlich Familienväter, die genug von ihren Familien hatten und vom Anblick der Truthahnkarkasse offenbar furchtbar deprimiert waren.“ S.177

Eine der zentralen Figuren ist Mather Grouse, der rechtschaffene, ehrliche Familienvater, der nie trank, wettete oder spielte. Auch hielt er sich aus den krummen Machenschaften in der Fabrik raus. Daher wird er über die Jahre zum Außenseiter.

Warum verkündeten sie bei jeder Gelegenheit, Mohawk sei die Hauptstadt der Lederindustrie, und ermutigten neue Arbeiter, sich hier anzusiedeln, wo doch alle wüssten, dass auch so schon nicht genug Arbeit für alle da sei? Diese Leute fliesten ihre Pools mit dem Schweiß und der Arbeitsmoral von Männern wie Marther Grouse.“ S.241

Doch Marther hat Träume für seine Tochter Anne und ermutigt sie früh, mit ihrem Leben etwas Besseres anzustellen. Anne jedoch ist zurückgekehrt mit ihrem Sohn Randall, kümmert sich um ihren schwerkranken Vater, kann aber in den Augen ihrer Mutter Mrs Grouse nichts richtig machen. Mrs Grouse und ihre alte zänkische Schwester Milly sind für mich zwei hervorragende, kauzige Figuren, wenig sympathisch aber herrlich gezeichnet.
Dann wären da noch … ach was, das überlassen wir lieber Russo, seine Figuren vorzustellen. Denn das macht er wirklich bravourös. Ich habe sie alle vor Augen gehabt, sie geliebt, gehasst, Verständnis entwickelt oder mit ihnen mitgelitten. Ihre Frustration und Resignation war stets greifbar, lebt doch keiner das Leben, das er sich erträumt hat. Was bis zum Ende bleibt, ist die Hoffnung, es möge alles gutgehen.

Mohawk ist hauptsächlich ein Roman über die beiden Familie Grouse und Gaffney über drei Generationen und sechs Jahre hinweg. Die leise Spannung entsteht allein dadurch, dass Russo uns die Verbindungen der Charaktere untereinander erst nach und nach aufdeckt. Mohawk ist voll von liebenswerten Versagern, die sich durchs Leben treiben lassen. Und aus dem leichten Windhauch wird am Ende ein ausgewachsener Orkan, der die ständig schwelende Fehde eskalieren lässt.
Russo bedient sich dem etwas antiquierten allwissenden Erzählers, was ich für sehr gelungen empfand. Obwohl die Geschichte zwischen 69 und 71 spielt, gibt es nur wenige zeitlich einzuordnende Detail, was das Buch somit zu einem zeitlosen Lesevergnügen werden lässt.

Klappentext

Mohawk, eine Kleinstadt in Upstate New York, verdankte ihren Aufstieg einst der Lederindustrie, und hat teuer dafür bezahlt. Die Krebsrate ist hier um ein Vielfaches höher als im Rest Amerikas, das Leder nicht mehr gefragt, die Stadt vergessen. Es sind die späten Sechziger, doch die Menschen hier haben nicht teil an den großen Veränderungen dieser Zeit: Sie haben keine extravaganten Träume, wollen einfach nur das Beste für ihre Familien und eine anständige Arbeit. Aber da ist die Fehde zwischen den Gaffneys und den Grouses, die die ganze Stadt beschäftigt. Mittendrin: Dallas Younger, ein ehemaliger High-School-Footballstar, und seine Ex-Frau Anne, die sich in einem aussichtslosen Kampf mit ihrer Mutter um die Pflege ihres kranken Vaters befindet. Ihr Sohn Randall vernachlässigt die Schule: Den Glauben an die Zukunft muss man sich in Mohawk leisten können.
Pulitzerpreisträger Richard Russo zeichnet das Porträt einer Stadt im Hinterland von New York und erzählt von den Leben ihrer Menschen, von entgleisten Ambitionen und alten Liebschaften, geheimem Hass und leiser Hoffnung. Wer diesen Roman liest, versteht einiges von einem Amerika, mit dem wir uns viel zu wenig beschäftigen.

»Zu gut für einen ersten Roman.« John Irving

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-8321-8228-1
Verlag: DuMont Buchverlag
Erscheinungsjahr: 18. Mai 2023
Übersetzung: Monika Köpfer
Seiten: 491, Hardcover

Über den Autor

Kauzige Kleinstädter und Pechvögel: Es ist der Alltag in US-amerikanischen Kleinstädten, der es Richard Russo angetan hat. Dabei schreibt kaum jemand so brillant darüber wie der 1949 in Johnstown, New York, geborene Autor.
Zunächst studierte Russo jedoch an der University of Arizona Literaturwissenschaften und Creative Writing und promovierte in Philosophie. Danach lehrte er an Universitäten. Dem Schreiben widmete er sich zu dieser zeit nur nebenbei.
Erst nach der erfolgreichen Verfilmung seines Romans „Nobody’s Fool“ (1993; deutsch: „Ein grundzufriedener Mann“, 2017) mit Paul Newman und Bruce Willis in den Hauptrollen ließ er sich als freier Schriftsteller nieder. Für „Empire Falls“ (2002; deutsch: „Diese gottverdammten Träume“, 2016) erhielt er den Pulitzer-Preis. Eine Emmy-Nominierung gab es für das gleichnamige Fernsehdrehbuch.
Es folgten der Indie Champion Award der American Booksellers Association sowie der französische Grand Prix de Littérature Américaine. In den USA ein großer Erfolg, wurden Russos Romane erst später ins Deutsche übersetzt.
Mit seinen detailreichen und humorvollen Porträts kauziger Kleinstadtbewohner an der amerikanischen Ostküste begeistert er nun auch hierzulande mehr und mehr Leser.
Heute lebt der Autor zusammen mit seiner Familie in dem Küstenstädtchen Camden in Maine. (Quelle: Lovelybooks)

Werke

Diese alte Sehnsucht 2010
Diese gottverdammten Träume 2016
Ein grundzufriedener Mann 2017
Ein Mann der Tat 2017
Immergleiche Wege 2018
Jenseits der Erwartungen 2020
Sh*tshow 2020
Mittelalte Männer 2021

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Über ein.lesewesen 311 Artikel
Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger

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