22 Bahnen – Caroline Wahl

Warum ich mal wieder entgegen dem Hype schwimme.
Wahls Debüt hatte viele kleine gute Momente, ob Tilda nun an der Kasse saß und »Kundenraten« gespielt hat, oder abends überfahrene Radieschen gegessen hat. Auch ihre Wortschöpfungen wie die »Abendbrottischfamilie« stechen immer wieder raus. Ihr Erzählstil ist modern und ließ mich schnell durch die Geschichte fliegen. Ihre Grundidee einer dysfunktionalen Familie, in der sich die Studentin und ihre 10-jährige Schwester um die alkoholkranke Mutter kümmern, ist jetzt nichts Neues, aber es kommt ja auf die Umsetzung an.
Ich habe nichts gegen eine distanzierte Schreibweise, aber hier hat es dazu geführt, dass ich die Handlung nur selten spüren konnte. Berührt hat mich das Verhältnis der Schwestern zueinander, auch der tägliche Umgang mit der Mutter, die nur selten einen lichten Moment hat, entweder betrunken auf der Couch liegt oder in ihren Depressionen versunken ist. Und trotzdem hat mir viel gefehlt. Wo ist die Auseinandersetzung mit dem Thema, wo sind (hoffnungsvolle) Lösungsansätze?
Die Autorin fixiert sich hier auf Tilda, die sich für ihre Schwester aufopfert, sie vor der gewaltbereiten und lieblosen Mutter beschützt. Trotz der Verantwortung verliert sie ihr großes Ziel nicht aus den Augen – die Doktorandenstelle in Berlin. Dennoch war die Lösung in Hinsicht auf Ida für mich wenig akzeptabel. Vielleicht bin ich für solche YA-Geschichten zu alt oder mein Beschützerinstinkt zu groß. Vielleicht mag es an der Realität liegen, dass auch hier das Jugendamt mit Abwesenheit geglänzt hat.
Leider raste die Story auch an mir vorbei, ohne wesentliche Ecken und Kanten, an denen sich Tilda stoßen könnte, das war mir zu glatt, zu gewollt.

Über den Umgang mit Drogen und Alkohol in diesem Buch kann man geteilter Meinung sein. Für mich klang das alles nach einer Message wie: Hey, es ist okay, wenn du mal einen schlechten Tripp hast. Und wer bitte lässt eine 10-jährige Red Bull trinken? Ich mag solche Dinge einfach nicht in Romanen. Ebenso wenig wie übermäßige Fehler, die so auffallend sind, dass ich mich frage, wo hier das Lektorat und Korrektorat seine Augen hatte.
Für mich leider kein stimmiges Buch, aber die Leute werden es trotzdem lieben. Das, was ich normalerweise an dünnen Büchlein mag, eine verdichtete, atmosphärische Handlung, jedes Wort an seinem Platz, dass einem am Ende nichts gefehlt hat, war hier einfach nicht gegeben.

Klappentext

Die Selbstermächtigung zweier Schwestern: ein fesselndes, leuchtendes Debüt

Tildas Tage sind strikt durchgetaktet: studieren, an der Supermarktkasse sitzen, sich um ihre kleine Schwester Ida kümmern – und an schlechten Tagen auch um die Mutter. Zu dritt wohnen sie im traurigsten Haus der Fröhlichstraße in einer Kleinstadt, die Tilda hasst. Ihre Freunde sind längst weg, leben in Amsterdam oder Berlin, nur Tilda ist geblieben. Denn irgendjemand muss für Ida da sein, Geld verdienen, die Verantwortung tragen. Nennenswerte Väter gibt es keine, die Mutter ist alkoholabhängig. Eines Tages aber geraten die Dinge in Bewegung: Tilda bekommt eine Promotion in Berlin in Aussicht gestellt, und es blitzt eine Zukunft auf, die Freiheit verspricht. Und Viktor taucht auf, der große Bruder von Ivan, mit dem Tilda früher befreundet war. Viktor, der – genau wie sie – immer 22 Bahnen schwimmt. Doch als Tilda schon beinahe glaubt, es könnte alles gut werden, gerät die Situation zu Hause vollends außer Kontrolle.
›22 Bahnen‹ ist eine raue und gleichzeitig zärtliche Geschichte über die Verheerungen des Familienlebens und darüber, wie das Glück zu finden ist zwischen Verantwortung und Freiheit.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-8321-6803-2
Verlag: Dumont Buchverlag
Erscheinungsjahr: 18. April 2023
Seiten: 205, Hardcover

Über die Autorin

CAROLINE WAHL wurde 1995 in Mainz geboren und wuchs in der Nähe von Heidelberg auf. Sie hat Germanistik in Tübingen und Deutsche Literatur in Berlin studiert. Danach arbeitete sie in mehreren Verlagen. ›22 Bahnen‹ ist ihr Debütroman. Caroline Wahl lebt in Rostock.

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