Nachmittage – Ferdinand von Schirach

Was ist dieses Buch eigentlich? Eine Kurzgeschichtensammlung? Ein Essayband? Gedankenfragmenten? Es ist von allem etwas. Auf jeden Fall macht es Freude, dieses Buch zu lesen, und als ich fertig war, ist mir zum einen die Erkenntnis geblieben, dass der Autor ganz offensichtlich (so wie ich) exclusive Uhren mag, solche, die mechanisch arbeiten. Zum anderen ist Ferdinand von Schirachs Welt nicht die Meine, vermutlich sind viele seiner Leser dort nicht zu Hause.
Teure Privatschulen, Luxushotels, Bekanntschaften mit Besserbetuchten, das ist eine Welt in der sich die wenigsten von uns bewegen. Und doch kann sich jeder in den Geschichten wiederfinden.

Nicht neu bei Schirach ist das Thema: Moral und Schuld. Unerwartet war, dass es zumeist auch Geschichten von Gefühlen, von Liebe und Freundschaft sind. In jedem Fall sind sie nachdrücklich und laden zum Nachdenken ein. Manchmal sind es auch nur fragmentarische Wortfetzen, jedoch von einer Treffsicherheit, die beeindruckend ist.
Es sind 26 Geschichten und Abend für Abend, Morgen für Morgen las ich zwei oder drei davon. Und keine hat mich enttäuscht, alle haben einen bleibenden Eindruck hinterlassen.
Da ist die Geschichte der Pianistin, die auf dem Höhepunkt ihrer Karriere aussteigt, alles hinschmeißt und untertaucht. Natürlich treffen sich die beiden (zufällig) in Paris und sie erzählt ihre Beweggründe. Wahrscheinlich steckt viel von Schirach selbst in dieser Geschichte: „Man ist angeblich der Ehrengast, aber in Wirklichkeit ist man der Hofnarr“, lässt er den Erzähler sagen. Die Wahrheit verbirgt sich bei Schirach in solchen Sätzen.

Ein sehr persönliches Buch sei es, habe ich oft gelesen und auch, dass es autobiografisch sei. Autobiografisch oder autofiktional (was ich eher vermute), es ist völlig egal, es war ein Buch, das ich gerne gelesen habe. Oft schwingt Melancholie oder eine ziellose Sehnsucht zwischen den Worten und überträgt sich auf den Leser.
Für mich war es ein beeindruckendes Leseerlebnis, das mich oft an »Kaffee und Zigaretten« erinnerte, dieses aber übertraf. Und so möchte ich mit einem Zitat aus dem Buch enden, das für mich die neue, gefühlvolle Seite von Schirachs trifft:

»Kann man so sehr lieben, dass man vergisst, nicht schwimmen zu können?«

Nachmittage, Ferdinand von Schirach, Seite 99

Klappentext:
Ferdinand von Schirach erzählt von milden Frühsommermorgen, verregneten Nachmittagen und schwarzen Nächten. Seine Geschichten spielen in Berlin, Pamplona, Oslo, Tokio, Zürich, New York, Marrakesch, Taipeh und Wien. Es sind kurze Geschichten über die Dinge, die unser Leben verändern, über Zufälle, falsche Entscheidungen und die Flüchtigkeit des Glücks. Schirach erzählt von der Einsamkeit der Menschen, von der Kunst, der Literatur, dem Film und immer auch von der Liebe.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-630-87723-5
Verlag: Luchterhand Literaturverlag
Erscheinungsdatum: 24.08.2022
Seiten: 176, Hardcover

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Über franzosenleser 80 Artikel
"Es gibt nur einen Weg, um Kritik zu vermeiden: Nichts tun, nichts sagen, nichts sein" Aristoteles

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