EIN SIMPLER EINGRIFF – Yael Inokai

„Es war ein simpler Eingriff. Die Nachwirkungen konnten schmerzhaft sein, aber das ging vorüber. Dann fing etwas neues an. So wurde es mir beigebracht. Daran hielt ich fest.“

Die Ich-Erzählerin Meret ist eine junge, pflichtbewusste Krankenschwester, die ihr Arbeit auf der psychiatrischen Station des Krankenhauses liebt und voller Mitgefühl für ihre Patient:innen ist. Ein Arzt erkennt ihre Fähigkeiten und sie darf die Patienten betreuen, während er einen simplen Eingriff vornimmt.
Starr glaubt sie an die Regeln und Vorschriften des Krankenhauses, daran kann sie sich festhalten, muss nichts hinterfragen. Niemals würde sie einem Arzt widersprechen. Sie fügt sich in ihre Rolle als Krankenschwester, Tochter und Schwester.
Doch dann verliebt sie sich in ihre Mitbewohnerin Sarah, die ihr unbequeme Fragen stellt. Parallel erfahren wir von Merets Schwester, die sich gegen die Regeln in der Familie sträubt, die aufsässig ist und dafür mit Schlägen bestraft wird. Ist nicht auch sie eine Kandidatin für so einen simplen Eingriff? Und dann ist da Marianne, der ein solcher Eingriff bevorsteht, weil sie ihre Wut nicht länger ertragen kann.

»Diese Erkrankungen (Tumor) ließen sich lokalisieren. Warum sollte es mit psychischen Störungen anders sein. Warum sollte man nicht auch sie beseitigen und die Menschen in ein Leben entlassen können, das diese Bezeichnung verdient?« S. 28

Es geht darum die Stelle zu lokalisieren und sie »einzuschläfern wie ein Tier«. Vornehmlich werden Frauen behandelt, die wütend sind, straffällig wurden und in der Gesellschaft anecken. Doch nicht jede Operation geht gut. Aber für den Fortschritt muss man Opfer bringen.

Zeitlich lässt sich das Buch nicht einordnen, lediglich Telefone, Autos und Radios geben dezent Hinweise. Die Andeutung eines »Damals« ließ mich aber an das Dritte Reich denken. Es ist in drei Abschnitte gegliedert, benannt nach den Protagonistinnen – Marianne, Sarah, Meret. Die Sprache ist klar und unaufdringlich. Die Geschichte spannend und berührend bis zur letzten Seite. Ein großartiges Buch über weibliche Selbstbestimmung, patriarchale Strukturen, Machtgefälle und gesellschaftliche Erwartungen. Über das Ende der Geschichte kann man geteilter Meinung sein. Ich sehe es als Metapher für den Aufbruch in eine bessere Zeit.

Auch heute haben die meisten Therapien nur ein Ziel, einen Menschen wieder arbeitsfähig zu machen und als funktionierend Glied zurück in die Gesellschaft zu entlassen. Wäre es da nicht einfach, die entsprechenden Areale im Kopf auszuschalten? Manche Therapeuten stochern nach wie vor im Dunkeln, Psychiater verschreiben Medikament, deren Wirksamkeit nicht eindeutig bewiesen sind, die mehr Nebenwirkungen haben als Nutzen. Wie weit also darf Medizin gehen?
Das Buch hinterlässt viele Fragen. Es hat mich nachdenklich aber auch wütend gemacht. Zum Glück gibt es aber auch Therapieansätze, die Wut als Mechanismus erklären, die einen lehren, diese zu erkennen und dadurch entgegensteuern zu können, ohne seine eigene Identität in Frage zu stellen.
Ein düsteres Buch, das aber auch von Empathie und er der Kraft der Liebe erzählt. Meines Erachtens war es zu Recht für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Klappentext

Ein neuartiger Eingriff soll Frauen von ihren psychischen Leiden befreien. Doch ist das menschenwürdig? Eine Geschichte von Emanzipation, Liebe und Empathie.

Meret ist Krankenschwester. Die Klinik ist ihr Zuhause, ihre Uniform trägt sie mit Stolz, schließlich kennt die Menschen in ihrem Leiden niemand so gut wie sie. Bis eines Tages ein neuartiger Eingriff entwickelt wird, der vor allem Frauen von psychischen Leiden befreien soll. Die Nachwirkungen des Eingriffs können schmerzhaft sein, aber danach fängt die Heilung an. Daran hält Meret fest, auch wenn ihr langsam erste Zweifel kommen.
„Ein simpler Eingriff“ ist nicht nur die Geschichte einer jungen Frau, die in einer Welt starrer Hierarchien und entmenschlichter Patientinnen ihren Glauben an die Macht der Medizin verliert. Es ist auch die intensive Heraufbeschwörung einer Liebe mit ganz eigenen Gesetzen. Denn Meret verliebt sich in eine andere Krankenschwester. Und überschreitet damit eine unsichtbare Grenze.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3446-27231-6
Verlag: Hanser Berlin
Erscheinungsjahr: Februar 2022
Seiten: 192, Hardcover

Über die Autorin

Yael Inokai, geboren 1989 in Basel, lebt in Berlin. 2012 erschien ihr Debütroman »Storchenbiss«. Für ihren zweiten Roman »Mahlstrom« wurde sie mit dem Schweizer Literaturpreis 2018 ausgezeichnet. Sie ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift PS: Politisch Schreiben. Für ihren Roman »Ein simpler Eingriff« (2022) erhielt sie den Anna Seghers-Preis.

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Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger

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