ALS WIR WAISEN WAREN – Kazuo Ishiguro

Und wieder frag ich mich, warum ich den Autor nicht viel früher entdeckt habe. Ich kannte zwar »Was vom Tage übrigblieb« als Film, hab ihn aber nicht mit Ishiguro in Zusammenhang gebracht. Denn wer denkt bei einem japanischen Namen an »very british«, denn das ist der Film und genauso ist Ishiguros Erzählstil – britischer geht es eigentlich nicht.

Zur Geschichte, die wohl vielen bekannt sein dürfte, da das Buch bereits 2000 erschien.
»Als wir Waisen waren« spielt in den 30ern in London und Shanghai und wird vom Ich-Erzähler Christopher Banks rückblickend erzählt. Er bedient sich immer wieder Formulierungen wie: »Wenn ich mich richtig erinnere … meine Erinnerungen sind nicht so akkurat …«, was ihn nicht gerade zu einem zuverlässigen Erzähler macht. Doch als Leser kann man sich ihm nicht entziehen, weil sein Erzählstil einen wahnsinnigen Sog entwickelt, Szene auf Szene folgt, Lücken lässt, die neugierig machen.

Banks wuchs in Shanghai auf, wo sein Vater für eine englische Firma arbeitet. Es sind unbeschwerte Kinderjahre, die er gemeinsam mit seinem japanischen Freund Akira verbringt, abgeschirmt in den International Settlements.
Bis eines Tages seine Eltern kurz hintereinander verschwinden. Sein Vater, weil seine Firma in den Opiumhandel verstrickt ist und seine Mutter, die eine vehemente Gegnerin war. Banks wird gegen seinen Willen zurück nach England geschickt.
Jetzt, in den Dreißigerjahren, ist Banks ein gefeierter Detektiv, der den Sprung in die Londoner High Society geschafft, wo man gleichgültig die Augen verschließt vor der drohenden Gefahr, die von Deutschland ausgeht und lieber ausgelassen Partys feiert. 1937 kehrt er nach Shanghai zurück, um den größten Fall seines Lebens zu lösen – die vermeintliche Entführung seiner Eltern.

Doch die Welt ist eine andere als in seiner Kindheit, die Japaner haben 1937 China angegriffen und unvermittelt findet er sich bei der Suche nach seinen Eltern in einem erbitterten Häuserkampf wieder. In diesem Teil wird es surreal, kafkaesk und Banks scheint sich nicht nur in der Dunkelheit des Krieges, nein, vielmehr in seiner Wahrnehmung, seinen Erinnerungen zu verirren. Durch sprachmächtige Bilder wird man unweigerlich mit hineingezogen, kommt kaum zum Luftholen.

Uns erwartet hier kein Detektivroman oder Krimi, tatsächlich gibt es keine Details seiner erwähnten Fälle. Es scheint so, als hatte der Kindheitswunsch, Detektiv zu werden, nur ein Ziel, nämlich seine Eltern zu befreien. Es wird zu seiner Obsession und obwohl sich immer wieder Möglichkeiten bieten, sich für ein – sein – Leben zu entscheiden (zum Beispiel durch Sara, mit der er aber nichts anzufangen weiß), kann Banks nicht loslassen. Es ist das Psychogramm einer verletzten Seele. Eines Mannes, der früh Waise wurde, den Verlust nicht verschmerzen kann und sich an seine Erinnerungen klammert, wie trügerisch sie auch sein mögen.

Natürlich kann man das Buch auf verschiedene Weise lesen, nicht zuletzt verbirgt sich dahinter auch ein großartiges historisches Gesellschaftsporträt der Dreißigerjahre, sowohl aus dem Blick der Londoner High Society als auch über die abscheulichen Massaker im 2. Japanisch-Chinesischen Krieg. Sicher ist, dass das Buch von großen Bildern und Metaphern lebt, die erst nach und nach sichtbar werden.

Fazit: Ein Buch, das mich erzählerisch mitgerissen hat und erst beim genaueren Hinsehen seine Tiefe entfaltet hat – zu dem es noch so viel zu sagen gibt, das man unbedingt lesen sollte.

Klappentext

England in den Dreißigerjahren: Ganz London schwärmt von Christopher Banks und seinen Erfolgen. Es gibt nur einen Fall, den der Meisterdetektiv bisher nicht aufklären konnte: Das mysteriöse Verschwinden seiner Eltern in Shanghai, der Stadt seiner Kindheit. Beide waren in den Opiumhandel verstrickt: der Vater als Profiteur, die Mutter als erklärte Gegnerin. Als die Erinnerungen an die Zeit, als er Waise wurde, Banks immer häufiger quälen, beschließt er, sich auf den Weg nach Shanghai zu machen, um endlich das größte Rätsel seines Lebens zu lösen.

Bibliografische Angaben

ISBN: 3-8135-0168-X
Verlag: Knaus Verlag
Erscheinungsjahr: 2000
Übersetzung: Sabine Herting
Seiten: 349, Hardcover

Über den Autor

Kazuo Ishiguro, 1954 in Nagasaki geboren, kam 1960 nach London, wo er später Englisch und Philosophie studierte. 1989 erhielt er für seinen Weltbestseller »Was vom Tage übrigblieb«, der von James Ivory verfilmt wurde, den Booker Prize. Kazuo Ishiguros Werk wurde bisher in 50 Sprachen übersetzt. Er erhielt 2017 den Nobelpreis für Literatur. Der Autor lebt in London.

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Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger

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