CAMILLA IM CALLCENTERLAND – Michela Murgia

Nach drei Büchern der inzwischen verstorbenen Autorin war mir klar, dass sie nicht mal »nur eine Geschichte zur allgemeinen Erheiterung« schreibt. Ich hatte zwar tatsächlich ein Dauergrinsen im Gesicht beim Lesen, es ist mir aber schnell vergangen, als mir klar wurde, was ihre Absicht dahinter war.

Mal ehrlich, wer von uns kennt sie nicht, die nervenden Anrufe von unterdrückten Nummern, die uns irgendwelchen Scheiß verkaufen wollen. Seid ihr schon mal drauf reingefallen und habt jetzt gar einen völlig überteuerten Staubsauger zu Hause, von dem euch vielleicht versprochen wurde, er könne sogar »Nacken massieren, Waschbecken reinigen und Hund und Katze desinfizieren«?
Camilla verkauft so eine Wunderwaffe in einem Callcenter (dem »schweizerischen Gulag«), das heißt, eigentlich vermittelt sie nur Vertreterbesuche für eine »kostenlose Hygienisierung ihres Sofas«, bei denen die Hausfrauen in die Ecke gedrängt und über den Tisch gezogen werden.

Das, was die Leser*innen hier erwartet, ist aber kein belustigender Roman, eher eine Wutschrift, denn Murgia schreibt von ihren eigenen Erlebnissen, als sie selbst in diesem Callcenter gearbeitet hat. Und das nicht etwas undercover, sondern um Geld zu verdienen. Sie veröffentlichte zunächst auf ihrem Blog, was auch eine durchgehend fehlende Handlung erklärt. Dafür strotzt es vor Bissigkeit und Ironie, dass man beim Lesen nicht weiß, ob man weinen oder lachen soll.

Murgia rechnet mit den prekären Arbeitsverhältnissen in Italien ab, die unter Berlusconi verschärft wurden. Aber das erzählt sie uns selbst in einem ausführlichen Nachwort. Was das Buch für mich so lesenswert macht, ist ihr sarkastischer Humor, wenn sie den Psychoterror und die perfiden Motivationsstrategien entlarvt, Hausfrauen typisiert, dass man sich garantiert selbst wiederfindet.

Eine absolute Leseempfehlung für dieses scharfzüngige Buch gibts von mir gratis. Garantiert ohne Vertreterbesuch.

Klappentext

Eine amerikanische Staubsaugerfirma mit den Geschäftsmethoden einer Sekte: Michela Murgia schildert ihre Erfahrungen als Angestellte eines Callcenters.

Ehe Michela Murgia zur gefeierten Romanautorin (Accabadora: 40.000 verkaufte Exemplare) wurde, verschlug es sie unter anderem in ein Callcenter, wo sie am Telefon überrumpelten Hausfrauen Kirby-Staubsauger verkaufen sollte. Dass Callcenter zu den prekärsten Arbeitsplätzen gehören, ist bekannt – Murgia beschreibt ihren sadistischen Alltag aber aus eigener Erfahrung: die stereotypen Telefonsätze, die halbseidenen Werbestrategien, die Hierarchien innerhalb der Firma und die billigen Motivationstechniken, mit denen zuerst die jungen Telefonistinnen und dann die möglichen Kundinnen der Firma auf den Leim gehen sollen. Alles höchst amüsant – freilich fügt Murgia in einem Nachwort hinzu, dass sie selbst kein bisschen darüber lachen kann. Ihr Buch sei aus der Wut über diese unwürdigen Arbeitsverhältnisse entstanden, und als Zeugnis dieser Wut möchte sie es verstanden wissen: eigentlich kein Roman, sondern ein Exorzismus.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-8031-2667-2
Verlag: Wagenbach Verlag
Erscheinungsjahr: 2011
Übersetzung: Julika Brandestini
Seiten: 140, Taschenbuch

Über die Autorin

Michela Murgia wurde 1972 in Cabras (Sardinien) geboren. Sie selbst konnte nicht über ihr erstes Buch lachen, obwohl es durchaus amüsant war. In »Il mondo deve sapere« (auf Deutsch: »Camilla im Callcenterland«) erzählte Michela Murgia von den prekären Arbeitsverhältnissen eines Callcenters. Es sei, schrieb sie im Nachwort, ein Zeugnis ihrer Wut. Ein Exorzismus. Mit dieser Wut arbeitete sie weiter – als kritische linke Stimme in der italienischen Gesellschaftspolitik und als Autorin. Für ihren Roman »Accabadora« (2009), in dem sie ein archaisches und ein modernes Italien verknüpfte, erhielt sie den Premio Campiello, einen der renommiertesten italienischen Literaturpreise. Das Buch wurde in 25 Sprachen übersetzt, auch in Deutschland fand es viele Zehntausend Leserinnen und Leser. Mit Interventionen und Essays wie »Faschist werden. Eine Anleitung« (2018) wandte sie sich gegen den Rechtsdrift in der italienischen Gesellschaft. Sie schrieb gegen Misogynie, Homophobie und konservative Familienpolitik. Zuletzt hatte sich die linke Aktivistin in Italien für die Rechte queerer Menschen engagiert. Mit ihrer Nierenkrebserkrankung ging Murgia offen um: Sie thematisierte den nahenden Abschied von ihrer Familie in ihrem Erzählband »Tre ciotole« (»Drei Schalen«). Michela Murgia starb am 10. August in Rom.

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Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger

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