DIE STADT DER ANDEREN – Patrícia Melo

Werbung, danke an den Unionsverlag für das Messeexemplar.

São Paulo, schillernde Millionenmetropole, Kultur- und Wirtschaftszentrum und beliebtes Reiseziel Brasiliens ist Melos Geburtsstadt. Doch sie zeigt uns die andere Seite, »die Stadt der Anderen«, die der Obdachlosen, Prostituierten, Gelegenheitsdiebe, Müllsammler, Straßenhändler, Bettler und Drogensüchtigen. Menschen, die oft von heute auf morgen ihren Job, ihre Wohnung verloren haben und nun auf der Praça da Matriz auf Pappen in Hauseingängen schlafen, auf Parkbänken oder unterbehelfsmäßigen Planen und ums tägliche Überleben kämpfen.

Chacoy, der auf der Suche nach einem besseren Leben aus Venezuela eingewandert ist, muss sie jeden Morgen mit dem Wasserschlauch vertreiben. Durch eine Unachtsamkeit verliert er seinen Job und wird Teil dieser bunten Gemeinschaft. Dido mit seinem Hundewelpen, der vor dem gewalttätigen Stiefvater geflohen ist, die schwangere 15-jährige Jèssica, die ihr Geld mit Putzen verdient, Chilves, der mit Müll Geld macht, im Gefängnis landet und bekehrt wird. Und da ist Douglas, der Totengräber, der während der Coronapandemie täglich mehr Gräber ausheben muss, und seinen Glauben an Gott verliert.
Es sind einige Figuren, die wir durch ihr tägliches Elend begleiten, die Melo mit der Zeit lose verknüpft. Es braucht eine Weile, bis man sich im Großstadtdschungel São Paulos zurechtfindet. Aber desto mehr man von den einzelnen Schicksalen erfährt, umso sogartiger entwickelt sich die kaleidoskopartige Geschichte. In wechselnden Perspektiven erleben wir, wie unterschiedlich die Schicksale der Gestrandeten sind, wie schnell man von heute auf morgen auf der Straße landen kann, seine Arbeit, sein Dach über dem Kopf, seinen ganzen Besitz verlieren kann. Sie alle sind einem korrupten Polizeiapparat ausgeliefert, der vor Selbstjustiz und Mord nicht zurückschreckt, sie verschwinden ohne Anklage in Gefängnissen oder in kirchlichen Einrichtungen, die mit zweifelhaften Methoden von Umerziehungs- oder Irrenanstalten arbeiten und dafür Geld von der Regierung erhalten.

Zwischen all der Aussichtslosigkeit blitzt immer wieder ein Funken Hoffnung, Menschlichkeit und gegenseitiger Hilfsbereitschaft durch. Auch wenn man ihnen alles genommen hat, sie träumen noch immer von einem besseren Leben. Und das ist auch die Stärke des Romans, denn Melos Figuren wachsen einem mit der Zeit sehr ans Herz. Man ist so mittendrin, dass man sich wünscht, ihr kleiner Traum vom Glück möge in Erfüllung gehen. Doch Melo zerstört auch diese Wünsche, das Sterben auf der Straße ist allgegenwärtig.

Melo benennt weder Details der Pandemie noch die fatale Politik des rechten Präsidenten Bolsonaros, dennoch wird schnell deutlich, welche Folgen dies für das Land hatte, die besonders für die Armen exorbitant waren. Wer in Brasilien keine Adresse hat, kann sich auch nicht für Sozialhilfe registrieren lassen. Einmal auf der Straße angekommen gibt es nahezu keinen Weg zurück.
Melo lässt es uns hautnah spüren, wie unerwünscht diese Menschen sind, die das Stadtbild verschandeln, den Einzelhändlern ein Dorn im Auge sind und wie perfide die erdachten Gegenmaßnahmen, um sie loszuwerden. Das ist stellenweise nur schwer zu ertragen, schmerzt fast körperlich, da es trotz aller Fiktion sehr realitätsnah wirkt. Und doch liest sich der Roman flüssig und schnell, die Kapitel aus den einzelnen Perspektiven sind kurz und die Zeitsprünge (oft über Monate hinweg) verdichten die Ereignisse. Besonders beeindruckt haben mich ihre stilistischen Kniffe, der immer wiederkehrenden Aufzählungen, die zeigen, dass sich hinter der oft von uns als graue Masse wahrgenommenen Obdachlosen eine Vielzahl von Schicksalen, von Sehnsüchten, von individuellen Geschichten verbirgt. Melo gibt diesen unerwünschten, ungesehenen, vergessenen Menschen in ihrer Heimat eine Stimme. Es ist ein Roman, den ich so schnell nicht vergessen werde, der mich zutiefst berührt hat und der eine unbedingte Leseempfehlung von mir bekommt.

»Die guten, gut gemachten, gut organisierten, ordentlich genähten, die sauberen, neuen, gefalteten und duftenden Dinge, aber auch die Schulen, die Hefte, die Banken, die Häuser, die Wohnungen, die Wohnstraßen, die bunten Autos, die Produkte mit Garantie, die weißen Laken, das warme Wasser und die Seifen, die Regale in den Supermärkten, nichts davon war für ihn, dachte Chilves. Die ganze Zeit hielten sie es einem vor die Nase, das ist nichts für dich, du nicht, für dich ist das verboten, nicht für Leute wie dich.« S.84

Klappentext

Glitzernde Pools, kunstvolle Skulpturen und imposante Tore: Sehnsüchtig blickt Chilves auf die luxuriösen Wohnanlagen von São Paulo. Sein eigenes Leben könnte nicht weiter davon entfernt sein: Er findet Unterschlupf auf der Praça da Matriz, ein Ort, wo jene zusammenkommen, die keinen Ort mehr haben.

Da ist Jéssica, seine Jéssica, die große Pläne hegt für ihre gemeinsame Zukunft. Da ist der kleine Dido mit seinem Hundewelpen, der Schriftsteller Iraquitan, der sich an der Schönheit seltsamer Worte festhält, oder Farol Baixo, der Lügner. Zwischen behelfsmäßigen Verschlägen und Öltonnen, in einer Welt, in der sich jeder selbst der Nächste ist, entsteht eine unerwartete Gemeinschaft.

Patrícia Melo reißt uns mit in eine schmutzig schillernde Metropole und fragt, was uns als Mensch ausmacht.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-293-00602-7
Verlag: Unionsverlag
Erscheinungsjahr: 12. Februar 2024
Übersetzung: Barbara Mesquita
Seiten: 400, Hardcover

Über die Autorin

Patrícia Melo (*1962 in São Paulo) zählt zu den wichtigsten Stimmen der brasilianischen Gegenwartsliteratur. Nach ihrem Studium in São Paulo arbeitete sie beim Fernsehen. In ihrem sozialkritischen Werk, bestehend aus Kriminalromanen, Hörspielen, Theaterstücken und Drehbüchern, beschäftigt sie sich mit der Gewalt und Kriminalität in Brasiliens Großstädten. Melo wurde u. a. mit dem Deutschen Krimipreis und dem LiBeraturpreis ausgezeichnet, die Times kürte sie zur »führenden Schriftstellerin des Millenniums« in Lateinamerika. Sie lebt in Lugano.

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Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger

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