ENTZWEI – Sabine Gelsing

Kurzrezension

Die 50er und 60er Jahre waren in Deutschland nicht leicht für Frauen, die sich selbst verwirklichen und nicht ihrer tradierten Rolle folgen wollten. Auch Elisabeth hat Träume, bis dahin arbeitet sie als Bedienung in der Dorfkneipe. Doch dann wird sie ungewollt schwanger von Franz, der sie auch gern heiraten würde. Aber so hat sich Elisabeth ihre Zukunft nicht vorgestellt.
Für Franz’ Mutter ist sie alles andere als die gewünschte Schwiegertochter und sie weiß es zu verhindern. Gegen einen Erben des Apfelhofs hat sie allerdings nichts einzuwenden. Und so bietet sie Elisabeth Geld für das Kind ihres Sohnes, unter der Bedingung, dass sie aus dem Dorf verschwindet. Womit keine gerechnet hat – Elisabeth bringt Zwillinge zur Welt.

»Nein. Hier ist nur Platz für ein Kind. Schlimm genug, dass es ein Mädchen ist.« S.64

Die beiden Mädchen werden getrennt, während Helene bei ihrem Vater aufwächst, lernt Alma in einem katholischen Kinderheim die harten Erziehungsmethoden der Nonnen kennen. Erst im hohen Alter erfährt Helene von dem düsteren Familiengeheimnis und sucht nach ihrer Schwester.

Gelsings Roman lehnt sich an die Geschichte ihrer Mutter an und steht stellvertretend für eine ganze Generation von Frauen, die ganz bestimme Erwartungen zu erfüllen hatten, mit klaren Rollenbildern, die keinen Raum für persönliche Entfaltung ließen. Besonders bewegt hat mich aber die Schilderung von Almas Kindheit – Erniedrigung, Prügel und Missbrauch im Namen Gottes. Das machte mich über weite Strecken echt fassungslos und wütend.

Für mich war Gelsings Debüt eine aufwühlende Lektüre, die ich sehr weiterempfehlen möchte. Durch die Zeit- und Perspektivwechsel bekommt die Geschichte Spannung viel und man will natürlich wissen, ob die Schwestern sich wiederfinden. Bin gespannt, was wir in Zukunft noch von der Autorin lesen werden.

Klappentext

Die Zwillinge Alma und Helene werden direkt nach ihrer Geburt getrennt. Grund ist ein geheimer Handel: Zweitausend Mark bietet die Großmutter für einen gesunden Hoferben und das Beenden der Affäre zwischen ihrem Sohn und der hochschwangeren Elisabeth. Elisabeth willigt ein, da sie dem Leben auf dem Land entfliehen will, um als Künstlerin in der Stadt zu arbeiten. Überraschenderweise kommen zwei Kinder zur Welt. Die alte Bäuerin lässt sich nicht erweichen, beide aufzunehmen, und so verlässt Elisabeth das Dorf mit Alma.

Einige Jahre später stirbt Elisabeth bei der Geburt eines weiteren Kindes, Alma muss ins Kinderheim. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren erlebt sie dort grausame Erziehungsmethoden unter dem Deckmantel der katholischen Kirche. Helene hingegen wächst auf dem Apfelhof auf. Dass sie nicht der gewünschte Junge ist, lässt ihre Großmutter sie täglich spüren, doch ihr Vater behütet sie. Ein schwerer Unfall führt zu Einsamkeit und einer tiefen Sehnsucht nach einer Freundin oder Schwester.

Erst im fortgeschrittenen Alter erfährt Helene von Almas Existenz. Sie begibt sich auf die Suche und hofft auf einen gemeinsamen Lebensabend mit ihrer Zwillingsschwester. Doch Almas belastende Vergangenheit steht ihnen im Weg …

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-89741-467-9
Verlag: Ulrike Helmer Verlag
Erscheinungsjahr: April 2023
Seiten: 213, Paperback

Über die Autorin

Sabine Gelsing lebt in Essen, ist Freie Lektorin (ADM), Herausgeberin des Literaturmagazins »introspektiv« und Mitgründerin der Literaturplattform Prosa:ist:innen. Neben dem Schreiben studiert sie Kulturwissenschaften, bloggt über Literatur auf Instagram, sammelt Aphorismen und Zitate und fotografiert das Leben. Einige ihrer Kurzgeschichten wurden veröffentlicht; mit einer gewann sie eine Reise ans Meer.

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Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger

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