»99 zerstreute Perlen« von Halim Youssef

Werbung. Herzlichen Dank an den Sujet Verlag für das Rezensionsexemplar.

99 Perlen hat die übliche islamische Gebetskette, die Misbaha oder Tesbih genannt wird. Azado trägt seine Tesbih immer am Handgelenk.

»Alles endete mit dem Schlag des scharfen Eisens, das auf seinen Kopf niederfuhr.«

Seite 7

Nun liegen die Perlen zerstreut im Straßengraben, genauer gesagt 60 von ihnen. Wäre das scharfe Eisen nicht immer wieder auf seinen Kopf niedergefahren und Azado wäre eines Tages friedlich in seinem Bett eingeschlafen, dann hätte dieser Roman wohl von allen Perlen erzählt. Doch sein Leben endet gewaltsam und viel zu früh.

»Die Träume waren zu Ende. Hoffnung blieb keine. Das Augenlicht erlosch. Sehnsüchte zerstoben.«

Seite 7

Anhand dieser 60 Perlen entführt uns Halim Youssef auf eine emotionale Reise durch das Leben von Azado, einem kurdischen Mann aus Syrien, dessen Existenz von Gewalt und Unterdrückung gezeichnet ist. Die Geschichte entfaltet sich wie die Perlen einer Gebetskette, deren Fäden sich durch die Wirren von Krieg, Migration und Integration winden.

»Ich weiß nicht, weshalb das Radio meines Vaters keine anderen Nachrichten von sich gab als solche von Mord, Krieg und Kampf.«

Seite 13

Azado wird nicht nur durch die physische Gewalt seiner Umgebung geprägt, sondern auch durch die Unsicherheiten und Träume seiner Jugend. Der Autor führt uns durch die Straßen von Syrien und später auf die Migrationspfade nach Deutschland, wobei er subtil die Herausforderungen und Hoffnungen des Exils beleuchtet.

»Das neue Land gab mir alles wieder, außer meiner Würde.«

Seite 251

Der Roman fordert uns Leserinnen und Leser dazu auf, über die tieferliegenden Ursachen von Flucht nachzudenken und die Auswirkungen auf das Leben nach der Migration zu erkennen. Dabei beleuchtet der Autor die bittere Realität einer Integration, die oft im Schatten von Ausgrenzung und Marginalisierung steht. Er zeichnet ein eindringliches Bild von Menschen, die vor Gewalt und Unterdrückung geflohen sind, nur um in der Fremde auf neue Hindernisse zu stoßen.

Youssef präsentiert auch paradigmatische Figuren, die extreme Traumata mit sich tragen und sich in der westlichen Zivilisation nicht zurechtfinden können. Sie sind gefangen zwischen den Welten, unfähig in ihre alte Heimat zurückzukehren und dennoch belastet vom Verbleiben in der Fremde.

Der Roman verweigert einfache Antworten und entlarvt die Simplifizierung eines komplexen gesellschaftlichen Phänomens, der Integration. Youssef klagt keine Seite an, sondern liefert eine eindringliche Analyse der strukturellen Hürden, die einer gelungenen Integration im Wege stehen. Dabei führt er uns vor Augen, dass das Schicksal der Flüchtlinge nicht allein in ihrer Vergangenheit begründet liegt, sondern auch von den gesellschaftlichen Umständen in ihrem neuen Zuhause geprägt wird.
Flüchtlinge sind vor Verfolgung und Unterdrückung geflohen, nur um hier auf Ausgrenzung und Marginalisierung zu stoßen.

Youssef gelingt es meisterhaft, die Komplexität menschlicher Beziehungen zu durchdringen. Er zeigt uns, wie die Narben der Vergangenheit das Leben in der Gegenwart beeinflussen und wie dysfunktionale Bindungen entstehen können, die die Charaktere zersplittern.

Besonders beeindruckend ist der Schreibstil des Autors, der sowohl poetisch als auch schonungslos ist. Youssef malt mit Worten Bilder, die sich tief ins Gedächtnis einprägen, ohne jemals in Kitsch abzudriften. Seine Sprache ist ein kraftvolles Werkzeug, das uns Leserinnen und Leser unmittelbar in Azados Leben zieht.
Dieses Buch hat mich zutiefst berührt, traurig gemacht und zum Nachdenken angeregt. Es ist eine eindringliche Mahnung, dass wahre Integration ein Dialog ist, der von beiden Seiten geführt werden muss. »99 zerstreute Perlen« ist somit nicht nur eine literarische Perle, sondern auch ein wichtiger Beitrag zum interkulturellen Verständnis und zur Menschlichkeit in einer zunehmend globalisierten Welt. Dieses Werk ist zweifellos ein literarisches Juwel, das ich nur empfehlen kann.

Klappentext

„Alles endete mit dem Schlag des scharfen Eisens, das auf seinen Kopf niederfuhr. Die Träume waren zu Ende. Hoffnung blieb keine. Das Augenlicht erlosch. Sehnsüchte zerstoben.“ Der Mord an Azado, der aus Syrien stammt und als Übersetzer in Deutschland lebt, bildet den Ausgang des Romans. Er übersetzt für Flüchtlinge aus seiner Heimat und wird so mit unterschiedlichsten Schicksalen konfrontiert, die ihn an sein eigenes erinnern. Azados schwierige Kindheit, die Sehnsucht nach seiner Mutter, die bei seiner Geburt starb, seine erste, unerfüllte, Liebe und die Ängste und Probleme von Geflüchteten vertraut er seinem Tagebuch an. Azado versucht, sich in seiner neuen Heimat zurechtzufinden, aber sein Beruf als Übersetzer macht das Ganze spannungsreich. Seine Vergangenheit lässt ihn nicht los. Sie wird auch durch die Gebetskette mit den 99 Perlen symbolisiert, die er von seiner ersten Liebe erhält und die ihn das ganze Leben lang begleitet.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-96202-134-4
Verlag: Sujet Verlag
Erscheinungsdatum: 01.10.2023
Seiten: 261, Taschenbuch

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"Es gibt nur einen Weg, um Kritik zu vermeiden: Nichts tun, nichts sagen, nichts sein" Aristoteles

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