EINE FRAU – Annie Ernaux

Die Kunst, ein einmaliges Porträt zu schaffen, ist es, mit wenigen gezielten Bleistiftstrichen die Unverwechselbarkeit eines Charakters zu zeichnen.

»Tatsächlich verbringe ich viel Zeit damit, über die Anordnung dessen nachzudenken, was ich sagen will, über die Auswahl und Reihenfolge der Wörter, als gäbe es eine ideale Anordnung, die allein eine Wahrheit über meine Mutter auszudrücken vermag … und für mich zählt beim Schreiben nichts anderes, als genau diese Anordnung zu finden.« S.36

Und es ist Ernaux auf nur 89 Seiten gelungen, wie mir am Ende das Buchs klar wurde. Aber wer ist »Die Frau«? Ernaux schreibt über das Leben ihrer Mutter, die 1986 starb, nachdem sie einige Jahre unter Alzheimer gelitten hat. Für Ernaux ist es ein Festhalten an »der einzigen Frau, die (ihr) jemals wirklich was bedeutet hat«.
Ihre Mutter, geboren um die letzte Jahrhundertwende, wuchs in ärmlichen, dörflichen Verhältnissen in der Normandie auf. Ihr Bestreben, dieses Milieu zu verlassen, mit jeder noch so kleinen Geste und Ausdrucksweise zu diesen »besseren Kreisen« dazuzugehören, ihren Kinder eine bessere Ausbildung zu ermöglichen, machten sie zu einer ehrgeizigen, starken Frau.

»… hatte meine Mutter die größte Wut und den größten Stolz, sie blickte mit rebellischer Klarsicht auf ihre niedrige gesellschaftliche Stellung und weigerte sich, ausschließlich danach beurteilt zu werden.« S. 27

Doch Ernaux verklärt nichts, spricht auch von Scham, Schuldgefühlen und Entfremdung.

»Ich versuche, die Wut, die überschwängliche Liebe und die Vorwürfe meiner Mutter nicht nur als individuelle Charakterzüge zu betrachten, sondern sie in ihrer Lebensgeschichte und ihrer gesellschaftlichen Stellung zu verorten« S.44

Es ist keine nüchterne Biografie. Eher ein Erinnern, bevor alles verblasst. Ein Trauern: »Ich habe die letzte Brücke zu der Welt, aus der ich stamme, verloren.« S.89
Liebevoll, in klaren schnörkellosen Sätzen, ohne überflüssige Details – die Kunst der präzisen Bleistiftstriche.
Sie war keine hausragende Persönlichkeit, eher nur »eine Frau«, eine Repräsentantin ihrer Zeit. Ihre Einzigartigkeit bekommt sie dadurch, dass sie »ihre Mutter« war. Was mich besonders berührte, war, dass es erstaunliche Parallelen zu meinem Leben gibt, wie wohl zu vielen Mutter-Töchter-Beziehungen. Sei es die bedingungslose Liebe als Kind, das verzweifelte Loslassen beim Erwachsenwerden oder das verzweifelte Festhalten vor dem unvermeidlichen Ende.
Ein kleines Buch mit großem Nachhall.

Klappentext

Dreizehn Tage nach dem Tod ihrer Mutter im Jahr 1986 schreibt Annie Ernaux ein kurzes, schmerzhaftes Requiem. Und lässt die Mutter als Repräsentantin einer Zeit und eines Milieus auferstehen, das auch das ihre war.
Das Leben ihrer Mutter: geboren um die Jahrhundertwende in der Normandie, Arbeiterin, dann Ladenbesitzerin, Ehefrau, zweifache Mutter, lebenslustig und offen, Körper und Geist werden später langsam durch Alzheimer zerstört. Das Ende war für die Tochter vorauszusehen, die Wirklichkeit des Todes scheint indessen kaum erträglich.
Zeit ihres Lebens kämpfte die Mutter darum, ihren sozialen Status zu erhalten, ihn vielleicht sogar zu überwinden. Erst der Tochter wird dies gelingen, eine Distanz zwischen den beiden entsteht. Auch darauf blickt Annie Ernaux zurück, voller Zärtlichkeit und Abscheu und Schuldgefühl.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-518-47138-8
Verlag: Suhrkamp Verlag
Erscheinungsjahr: 10. Mai 2021
Übersetzung: Sonja Fink
Seiten: 89, Taschenbuch

Über die Autorin

Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Romane sind von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeiert worden. Sie wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Nobelpreis für Literatur.
Nobelpreis für Literatur 2022
Würth-Preis für Europäische Literatur 2021
Warwick Prize for Women in Translation 2021 (Longlist)
Deutscher Hörbuchpreis 2020

Pressestimmen

»Eine Wahrheit über das Leben der Mutter gibt es nicht. Nur Annäherungen und schmerzhafte Erkenntnisse. Aber indem Annie Ernaux dieser individuellen Existenz Raum lässt, ihren Kampf sichtbar macht mit den Verhältnissen, denen die Mutter entkommen wollte, aber nicht entkommen konnte, verleiht sie diesem Leben rückblickend nichts weniger als Würde.« Angela Gutzeit, WDR

»Es ist schwer zu sagen, weshalb Annie Ernaux‹ kahle Sprache so unter die Haut geht. Eine Frau, ihre autobiografische Annäherung an die Mutter, entwickelt in ihrer trockenen Faktizität einen eigentümlichen Sog. Jedes Wort in diesem Bericht über das Leben der 1987 verstorbenen Madame Ernaux hat eine unabweisbare Wucht.« Andrea Köhler, Neue Züricher Zeitung

»[Ernaux’s Werk] ist kein weit ausgreifendes Panorama, wie in den großen Romanen der Literaturgeschichte, sondern ein sehr detailliertes Bild, in dem alles sichtbar miteinander in Verbindung steht. Diese Verbindungen hängen sich im Prozess der Lektüre an weitere Anknüpfungspunkte, denn auch der Leser ist Teil eines sozialen Gefüges. Das Ich, das Sie, Er und Wir der Annie Ernaux finden ihre Entsprechungen. Ihre Wirkung erreichen diese Bücher auch durch ihr Echo im Leser selbst.« Cornelia Geißler, Frankfurter Rundschau

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Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger

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