Die kleine Schwester von Raymond Chandler

Werbung. Herzlichen Dank an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

In den letzten Wochen hatte ich weniger Zeit zum Lesen, aber nachdem mich die Neuübersetzung von Chandlers »Die Lady im See« voll abholen konnte, durfte dieses Buch natürlich nicht lange ungelesen auf meinem Nachttisch liegen.
Ich war neugierig, hat auch diesmal die Neuübersetzung von Robin Detje dem Buch gutgetan? Die Antwort ist ein ganz klares Ja.
Trotz der frischen Sprache, die aus einem aktuellen Roman stammen könnte, ist es immer noch ein typischer Chandler. Und dabei scheint der Text grundlegend überarbeitet worden zu sein. Marlowe ist ein Macho, keine Frage, und das Frauenbild war im Original der 40er zeitgemäß, aus heutiger Sicht etwas – wie soll ich es sagen – na ja antiquiert. Tatsächlich hat der Übersetzer es geschafft, das zu ändern. Die Frauen sind selbstbewusst, selbstständig und modern geworden. Dennoch blieb der Flair der späten 40er-Jahre in der Geschichte erhalten. Doch nun zum Inhalt:

Philip Marlowe wird von der schüchternen Orfamay Quest kontaktiert, die ihren Bruder vermisst. Schon seit einigen Wochen ist er verschwunden. Warum geht sie nicht einfach zur Polizei? Und warum wartet sie Wochen, bevor sie etwas unternimmt? Diese Fragen stellt sich Marlowe und weitere Ungereimtheiten machen den Fall für Marlowe interessant. So nimmt er ihn trotz des lausigen Honorars von nur 20 Dollar an. Schnell stellt er fest, dass hinter allem eine wohldurchdachte Erpessungsgeschichte steckt.
Natürlich traut Marlowe niemandem, auch nicht seiner Auftraggeberin. Im Laufe der Geschichte wird geflucht, Marlowe stolpert über sieben Leichen und harte Drinks fließen literweise. Soweit nicht ungewöhnlich, schließlich heißt unser Held Philip Marlowe und wir wären sicher mehr als erstaunt, wenn das nicht so wäre. Es gibt weitere Gemeinsamkeiten mit anderen Marlowe-Büchern. Fleißige Chandler-Leser werden Figuren und Figurenkonstellationen wiedererkennen, hier hat Chandler bei sich selbst geklaut. Doch das tut der Lesefreude keinen Abbruch, nichts wirkt konstruiert oder unpassend.
Auch Chandlers Einstellung gegenüber der Traumfabrik Hollywood wird mehr als deutlich; amüsant sind seine vielen Spitzen, gegen das Showgeschäft, das dem Autor zeitlebens verhasst war.
Das Ende ist großes Kino (verzeiht mir bitte diese Phrase, zumal dies eines der wenigen nie verfilmten Marlowe-Bücher ist). Absolut nachvollziehbar und logisch präsentiert Chandler das Ende und das ist eine wahrlich bittere Pointe.

Fazit

Ein absolut lesenswertes Werk von Chandler, meiner Meinung nach der beste Marlowe-Band (wobei ich das von jedem behaupte, nachdem ich ihn gelesen habe. Man muss sie einfach alle lesen). Witzige, spritzige, ironische und sarkastische Dialoge, da sitzt jedes Wort, treiben einen zusätzlich durch die Geschichte. Das war mal wieder ein Buch, das ich nicht mehr aus der Hand legen wollte.

Klappentext

Aus dem Amerikanischen von Robin Detje. Mit einem Nachwort von Michael Connelly

Orfamay Quest kommt aus der Provinz nach Los Angeles. Sie sorgt sich um ihren vermissten Bruder. Das ist die Version, die sie Privatdetektiv Philip Marlowe auftischt. Die Spur führt hinter die Kulissen von Hollywood, wo Orfamays große Schwester ein Leinwandstar ist. Marlowe gerät in eine Welt aus Gangstern und Glamour, Cops und Fedoras. Ein Meisterwerk mit wunderbarster Film-noir-Atmosphäre. Und gleichzeitig eine gnadenlose Entlarvung der Traumfabrik. Fortsetzung der Neuedition der ›Philip-Marlowe‹-Romane. Chandlers großer Hollywood-Roman in brillanter Neuübersetzung von Robin Detje. Mit einem Nachwort von Michael Connelly.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-257-24630-8
Verlag: Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum: 27.04.2022
Seiten: 252, Taschenbuch

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Über franzosenleser 76 Artikel
"Es gibt nur einen Weg, um Kritik zu vermeiden: Nichts tun, nichts sagen, nichts sein" Aristoteles

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