Isidor von Shelly Kupferberg

Werbung. Herzlichen Dank an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

Was könnte ich zu diesem Buch alles sagen! Mein erster Entwurf für die Buchbesprechung umfasste über 6000 Wörter. So vieles an dieser Geschichte erschien mir absolut erwähnenswert. So beachtenswert finde ich die Leistung der Autorin – wie sie diese wahre Geschichte erzählt, die ja die ihrer eigenen Familie ist. Bewundernswert, wie sie es schafft eine Distanz beizubehalten, nicht zu jammern und von Schuld zu reden, nicht anzuklagen. Das ist bei Isidors Geschichte auch nicht nötig, die Anklage gegen die Täter ergibt sich bei jedem, der empathiefähig ist, aus den Handlungen. So hat Shelly Kupferberg ein Werk erschaffen, das sich von den bekannten schrecklichen Schwarzweiß-Bildern aus dem Geschichtsunterricht abhebt und so das Zeug hat, zu einem wichtigen Teil Erinnerungskultur zu werden.


Ich wende mich nur kurz dem Inhalt zu: Shelly Kupferberg erforschte ihre eigene Familiengeschichte. In den Mittelpunkt ihres Werkes stellt sie ihren Großonkel Israel, der zu Beginn des letzten Jahrhunderts in armen Verhältnissen in Galizien aufwächst. Um dem Korsett der ultraorthodoxen Glaubensgemeinschaft und der Armut zu entfliehen macht er sich, wie auch seine Geschwister, auf den Weg nach Wien. Dort beginnt er ein Jurastudium und nennt sich fortan Isidor um nicht sofort als Jude erkannt zu werden. Zielstrebig verfolgt er seinen gesellschaftlichen Aufstieg und wird zum Multimillionär. Das nötige Startkapital beschafft er sich auf nicht ganz legale Weise. Doch schnell ist er, so scheint es tief in der Wiener Gesellschaft verwurzelt. Er fühlt sich selbst dann sicher, als die Nazis in Deutschland ihre Macht ausbauen und auch in Österreich viele Anhänger haben. Ihm, dem Kommerzialrat, der fest in der Oberschicht verwurzelt ist, kann doch nichts passieren.
Sein Neffe Walter (der Großvater der Autorin) versucht, ihn in letzter Sekunde zu überzeugen, das Land zu verlassen, er bleibt erfolglos. Hitler residiert da bereits im Hotel, direkt gegenüber von Isidors Wohnung. Kurz darauf wird Isidor von Nazischergen festgenommen und unter Folter gezwungen sein gesamtes Vermögen an die neuen Machthaber zu überschreiben. Drei Monate bleibt er in Haft und wird dann psychisch und physisch gebrochen entlassen und stirbt kurz darauf. Da ist Walter schon nach Palästina ausgewandert.
Walter kommt Mitte der 50er Jahre zurück nach Wien. An den Klingelschildern seines Elternhauses stehen jetzt unbekannte Namen, nur einer ist geblieben.

Als er bei dem Ehepaar klingelt, öffnet die Hauswartsfrau die Wohnungstür und erkennt Walter sofort. Kreidebleich ruft sie in die Wohnung hinein: »Der Jud‘ is wieda doa!« Worauf ihr Mann rüde antwortet: »Sag koa Wort!« In den wenigen Sekunden, ehe sie die Tür vor Walters Nase zuschlägt, kann er einige Möbel seiner Eltern und ehemaligen Nachbarn ausmachen.

Isidor von Shelly Kupferberg, Seite 19

Während Isidors Gefangenschaft die barbarische Ideologie der Nazis fühlbar macht, ist diese Szene von Walters Rückkehr nach Wien typisch für einen bis heute vorhandenen latenten Antisemitismus in der deutschen (aber nicht nur in der deutschen) Gesellschaft. Für mich eine der erschreckendsten Szenen im Buch, sie hätte so ähnlich auch in meiner Kindheit in den Siebzigern stattfinden können.
Shelly Kupferberg zeigt in Ihrem Buch nicht den Genozid an den Juden, sondern das, was bei den erwähnten schrecklichen Bildern oft vergessen wird: Den Alltagsantisemitismus und das macht dieses Werk – über den historischen Kontext hinaus – zu einem hochaktuellen Buch. Antisemitismus im Alltrag ist eine Form von Alltagsrassismus gegen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe. Und Alltagsrassismus ist auch heute ein echtes Problem. Ein Grauen, das unserer Gesellschaft unwürdig ist.


»Isidor« ist definitiv kein Roman, es ist ein Stück niedergeschriebene Zeitgeschichte, ein historisches Zeugnis. Dabei ist es leicht geschrieben immer mit einer dokumentarischen Distanz und die Menschen werden tief gezeichnet. Das Werk ist zwar auf den Protagonisten Isidor fokussiert, doch wird das gesamte Familienumfeld eingebunden. Sein Neffe Walter, dessen Eltern, besonders seine Mutter Franziska und die anderen Geschwister. Berührt hat mich auch das Kurzporträt von Isidors Bruder David, der schwer an Paranoia erkrankte.
Auch wird Isidor sehr vielschichtig dargestellt. Wenn er heute leben würde, wären wir bestimmt keine Freunde. Karieregeil, oberflächlich, auf den eigenen wirtschaftlichen Vorteil bedacht, auch wenn der anderen schadet und illegal ist. Solche Menschen mag ich nicht. Doch solch ein Verhalten ist auch heute oft zu sehen, man denke nur an die vielen großen und kleinen Finanzskandale – und heute ist es die blanke Gier, die diese Menschen antreibt. Doch Isidors Entwicklung, sein unbedingter Wille zum Erfolg ist nachvollziehbar, wenn man seine Herkunft betrachtet.


Fazit
Die Autorin erzielt eine ganz besondere, selten zu findende Atmosphäre, die Tonalität der Erzählung ist nuanciert und absolut passend. Die Erzählweise hat ein gut angepasstes Tempo und eine wechselnde Nähe zu den Figuren und zieht in das Geschehen hinein. Ein Buch, das ich wirklich jedem Mensch empfehlen kann. Egal ob man gerne New Adult, Fantasy, Thriller, Krimis oder hohe Literatur liest. Der Text ist leicht zu lesen, einfach geschrieben und wirkt trotzdem auch für den anspruchsvollen Leser nicht platt.

Klappentext

Dr. Isidor Geller hat es geschafft: Er ist Kommerzialrat, Berater des österreichischen Staates, Multimillionär, Opernfreund und Kunstsammler und nach zwei gescheiterten Ehen Liebhaber einer wunderschönen Sängerin. Weit ist der Weg, den er aus dem hintersten, ärmlichsten Winkel Galiziens zurückgelegt hat, vom Schtetl in die obersten Kreise Wiens. Ihm kann keiner etwas anhaben, davon ist Isidor überzeugt. Und schon gar nicht diese vulgären Nationalsozialisten.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-257-07206-8
Verlag: Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum: 24.08.2022
Seiten: 256, Hardcover

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Über franzosenleser 76 Artikel
"Es gibt nur einen Weg, um Kritik zu vermeiden: Nichts tun, nichts sagen, nichts sein" Aristoteles

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